Am 2. Oktober 2013 hat Thilo Rentschler sein Amt als Oberbürgermeister angetreten. Er habe die Stadt aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst, heißt es. Manche fühlen sich recht unsanft geweckt.

Aalen - In Stuttgart soll es Leute geben, die halten die Ostalb für den ersten Ausläufer des Ural. Früher war Thilo Rentschler auch einer, dem menschliches Leben jenseits der Schorndorfer Stadtgrenzen schier unmöglich zu sein schien. Mittlerweile ist der 49-Jährige, der in Fellbach (Rems-Murr-Kreis) aufgewachsen ist und dort als SPD-Fraktionsvorsitzender kommunalpolitische Erfahrungen gesammelt hat, schon seit vier Jahren Oberbürgermeister von Aalen. Jetzt erklärt er den Landeshauptstädtern, dass sie nicht der Nabel der Welt seien, nicht, was die Verteilung von Polizeipräsidien übers ganze Land, die Hochschullandschaft oder den umstrittenen Nordostring angeht.

 

Er verweist darauf, dass Aalen ziemlich genau in der Mitte liege zwischen den drei Metropolregionen München, Nürnberg und Stuttgart – anderthalb Stunden mit dem Auto, schon ist man da. Er deutet auf die vielen Baukräne, die in Aalen in die Höhe ragen. Zwei Milliarden Euro werden in den nächsten Jahren von privaten Bauherren, aber auch von der öffentlichen Hand in die „Boomtown Aalen“ (Rentschler) investiert. „Der OB hat Aalen aus seinem Dornröschenschlaf wachgeküsst“, sagt Senta D’Onofrio, die Vorsitzende der SPD-Fraktion. Die Sprecher der anderen Gruppierungen formulieren es weniger blumig. Rentschlers parteiloser Vorgänger Martin Gerlach, der 2013 nach acht Jahren als Aalener OB – zuvor war er elf Jahren Rathauschef in Walheim (Kreis Ludwigsburg) – nicht erneut kandidiert hatte, ist ungebrochen beliebt in der Stadt: Der Ex-OB wäre für manche der Wunschkandidat für einen gemeinsamen Campingurlaub. Doch Gerlachs Zeit im Rathaus hat man im Gemeinderat, aber auch innerhalb der Verwaltung als eher lähmend erlebt. Aalen sei in dieser Zeit von Schwäbisch Gmünd unter dem rührigen Richard Arnold (CDU) abgehängt worden, heißt es: Man habe halt so vor sich hingewurschtelt.

Mit dem Vor-sich-Hinwursteln ist es vorbei

Gewurstelt wird unter Rentschler, der sich 2013 im zweiten Wahlgang klar gegen den damaligen CDU-Bewerber durchsetzen konnte, nicht. Aalen wächst. In den kommenden drei Jahren wird Prognosen zufolge die 70 000-Einwohner-Marke überschritten. Innerhalb von nur vier Jahren hat der OB das neue innerstädtische Wohnquartier Stadtoval mit mehr als 200 neuen Wohneinheiten auf einer alten Gewerbebrache auf den Weg gebracht. Er hat eine breite Mehrheit dafür gewonnen, dass eine zusehends verfallende, aber charmante Bahnwerkstatt für 24,4 Millionen Euro zur neuen Heimstadt für das Stadttheater, das genossenschaftliche Programmkino am Kocher und die Jugendmusikschule wird. Zwischen Idee und Baubeschluss vergingen keine drei Jahre.

Der OB leistet viel – und erwartet das auch von anderen

Rentschler nennt das Schulsanierungsprogramm mit einem Volumen von mehr als 60 Millionen Euro als eine der wichtigsten Errungenschaften seiner Amtszeit. Der Zustand der Schulen hatte ihn im Wahlkampf entsetzt. Und in einer Flächenstadt mit acht sehr selbstbewussten Stadtteilen und mehr als elfmal so vielen Teilorten, in der fast alle Schulen mehr oder weniger dringend renovierungsbedürftig sind, führt die Frage, wann welche Schule endlich neue Toiletten bekommt, zu ebenso langen wie grausigen Debatten im Gemeinderat.

Rentschler wird für seinen schnellen Verstand, seinen Gestaltungswillen und seinen Fleiß von allen Seiten geschätzt und geachtet. Zwölf bis 16 Termine absolviert er am Tag. Abends daheim, gesteht der dreifache Vater, weise ihn die Ehefrau schon mal darauf hin, dass er nicht mehr eine Besprechung im Rathaus leite. Rentschler leistet viel. Aber der Betriebswirt erwartet auch von anderen eine Menge. Wer seine Erwartungen nicht erfülle, gegen den gehe der OB brachial vor, heißt es.

Die SPD zerlegt sich in aller Öffentlichkeit

Das haben die beiden Vorgänger der jetzigen Dezernenten Wolfgang Steidle und Karl-Heinz Ehrmann erfahren. Sie hatten zur Wiederwahl erst gar nicht wieder antreten müssen, weil der OB deutlich gemacht hatte, dass er mit ihnen nicht weiterarbeiten wolle. Der Gemeinderat zog zwar mehrheitlich mit. Aber bei CDU und SPD hinterließ der Loyalitätskonflikt und die nachfolgende Dezernentenkür Spuren. Rentschlers Sozialdemokraten trugen den Streit aus, wie das unter Genossen üblich ist: Sie zerlegten sich in aller Öffentlichkeit. Zwei langjährige SPD-Stadträte traten schließlich aus der SPD aus und wechselten zu den Grünen; die SPD ist jetzt nicht mehr zweit-, nur noch drittgrößte Fraktion.

„Wir sind von einem Extrem ins andere gekommen“, sagt Michael Fleischer, der Grünen-Fraktionschef, „von absoluter Führungslosigkeit zu absoluter Führung.“ Bei der CDU, die es erst einmal verschmerzen musste, dass ihr OB-Kandidat den Kürzeren gezogen hatte, honoriert man Rentschlers Gestaltungswillen. Doch der CDU-Fraktionschef Thomas Wagenblast mahnt den rührigen Rathauschef: „Im Formationsflug mit dem Gemeinderat, den Mitarbeitern und den Bürgern erreicht man am meisten“, sagt er. Es würde nicht schaden, ein bisschen vom Gas zu gehen, meint seine SPD-Kollegin Senta D’Onofrio: „Die Aalener brauchen eine Pause.“

Rentschler denkt nicht ans Verschnaufen

Rentschler denkt nicht ans Verschnaufen. 90 Millionen Euro fließen gerade in die Modernisierung und den Ausbau der Aalener Hochschulen. Vor Kurzem hat sich der Gemeinderat auf einer Klausurtagung damit beschäftigt, wie die Bäder modernisiert werden könnten. Und dann soll auch das Rathaus, ein Betonbau aus dem Bilderbuch, auf Vordermann gebracht werden.

Die Ostalb hat Rentschler für sich gewonnen. „Hier ist es einfach wunderschön“, sagt er. Tatsächlich gehört die Region Ostwürttemberg einer Umfrage der ARD aus dem Jahr 2013 zufolge zu den Top Ten der Gegenden in Deutschland, in denen die glücklichsten Menschen leben. Davon können die Stuttgarter tief im Westen nur träumen. Aalen mag vielleicht auch nicht der Nabel der Welt sein. Aber für Thilo Rentschler ist man verdammt nah dran.