Timo Werner wird aus seiner Schlamperei beim Spiel gegen Schalke lernen: Wer ohne gegnerisches Bein losfliegt, hat einen Vogel, schreibt StZ-Kolumnist Oskar Beck.

Stuttgart - Über den Sturzflug, den Timo Werner letzten Samstag im Schalker Strafraum hingelegt hat, ist alles gesagt – nur das Schlimmste haben wir Moralapostel vor lauter Blindheit glatt zu fragen vergessen.

 

Darf eine Schwalbe so schlampig sein?

Man muss sich als Schwabe fast schämen für die hundsmiserable Armseligkeit in der Ausführung, die sich unser Landsmann im Leipziger Söldnerhemd da geleistet hat. Schlagartig brach er zunächst vor dem Tor zusammen, als hätte ihm von hinten einer in den Rücken geschossen. Regungslos lag der Sterbende kurz da, ein Priester für die letzte Ölung war schon so gut wie bestellt – doch kaum ertönte der Pfiff zum Elfmeter, da sprang der Tote glücklich auf, pries den Schiedsrichter für seine unbürokratische Entscheidung mit dem Daumen nach oben, legte sich den Ball auf den Punkt, und schon stand es 1:0.

„Mein lieber Mann“, hören wir den „Sky“-Experten Lothar Matthäus immer noch nach Luft schnappen, „soll man jetzt über diese Dreistigkeit schimpfen – oder diese freche Abgebrühtheit eines Zwanzigjährigen bewundern?“

Setzen, sechs

Alles falsch, man muss Werners Dilettantismus geißeln – und sich fragen, warum der von der tiefstehenden Sonne des Flutlichts geblendete Schiedsrichter für diese Anfängernummer die Haltungsnote „10,0“ zog und auch den Schwierigkeitsgrad und die künstlerische Ausführung krass überbewertete – an der DFB-Schwalbenhochschule in Frankfurt heißt es bei sowas schon im Grundkurs: Setzen, sechs.

Einen Elfmeter ist eine so billige Schwalbe jedenfalls nicht wert, und zur Strafe müsste Werner eigentlich zum VfB zurückgeschickt werden. Es war die erbärmlichste Flugshow, seit Ende des letzten Jahrtausends Andy Möller im KSC-Strafraum den sterbenden Schwan mimte. Unser Ex-Europameister wurde seinerzeit vom eigenen Fahrtwind von den Beinen geholt (ein Gegenspieler konnte es nicht gewesen sein, der nächste stand etwa zweieinhalb Meter entfernt) – worauf das DFB-Sportgericht den Dortmunder bockelhart zu zwei Wochen Dunkelhaft bei Wasser und Brot und einer 10 000-Mark-Spende verdonnerte. Wer eine Schwalbe freiwillig zugibt, hat einen Vogel, sagten danach viele über Möller kopfschüttelnd, aber die Richter verübelten dem Tolpatsch vermutlich vor allem die Dussligkeit bei der Ausführung der Tat. Fast so furchtbar war es jetzt bei Werner, und auch der ist halbwegs geständig: „Es war eine Schwalbe – Punkt.“

Aber eine Schwalbe muss sitzen – Doppelpunkt!

Die hinterhältigste Schwalbe der Fußballgeschichte

Wie sieht eine vorbildliche Schwalbe aus? Die weltberühmteste aller Zeiten ist und bleibt die von Bernd Hölzenbein, sie war sogar so perfekt, dass sie als Schwalbe kaum noch zu erkennen war. Den „Jet von Frankfurt“ hat man ihn getauft, weil der Eintrachtler in jenem WM-Endspiel 1974 wie von der Tarantel gestochen direkt auf Wim Jansen zugerannt ist und sich einhakte – der Holländer hatte gar keine Zeit mehr, einen Schritt zur Seite zu machen oder sich im letzten Moment noch das Bein abhacken zu lassen. Die Holländer wimmern noch heute mit Wim und sprechen von der hinterhältigsten Schwalbe der Fußballgeschichte.

Aber auf jeden Fall war es die beste. Jeder anständige Deutsche ist Hölzenbein aufrichtig dafür dankbar, dass er Wims Bein nicht einfach schnöde links liegen ließ. Im Übrigen stünde es im WM-Finale 1990 gegen Argentinien heute noch 0:0, wenn Rudi Völler nicht fünf Minuten vor Schluss im Strafraum brutal hingestürzt wäre – vermutlich aus vorbeugender Angst vor irgendeinem niederträchtig gestreckten Bein, mit dem ihn so ein Stier aus der Pampa sonst im nächsten Moment niedergemetzelt hätte.

Sie merken: Trotz aller moralischen Bedenken lehnen wir Schwalben nicht grundsätzlich ab – ihre Bewertung ist eine Frage des Standpunkts.

Aber vor allem der Ästhetik.

Völler und Hölzenbein haben ihre Ruhe und ihren Seelenfrieden

Der große Dichter Salman Rushdie, der gefürchtet ist für seine „Satanischen Verse“, kann als großer Fußballfreund auch ganz anders. Man hörte förmlich das Schnalzen mit der Zunge heraus, als er einmal losschwärmte: „Schwalben im Strafraum, um das Spiel zu beeinflussen, sind so etwas wie ein Taschenspielertrick, aber gute Schwalben sind große Kunst. Eine gute Schwalbe ist wie ein Lachs, der hochschnellt, sich dreht und ins Wasser zurückfällt. Eine gute Schwalbe ist wie das Sterben des Schwans.“

Spätestens seither haben Völler und Hölzenbein ihre Ruhe und ihren Seelenfrieden. Vor allem die letzten Gewissensbisse des 74er-Helden haben sich vollends erledigt, als er vor einigen Jahren bei einem Kameradschaftstreffen ehemaliger Weltmeister pinkeln musste – plötzlich drehte sich Olaf Thon aus der 90er-Mannschaft an der Rinne zu Hölzenbein hinüber und beruhigte ihn: „Du, Bernd, den Elfer kann man glaub’ ich geben.“

Den Elfer von Timo Werner aber gar nicht. Aus dieser Schlamperei muss er jetzt schleunigst lernen und sich zumindest von Völler und Hölzenbein schon einmal erzählen lassen, wie man nach dem Eindringen in den Strafraum nach einem gegnerischen Bein Ausschau hält, den vorschriftsmäßigen Körperkontakt sucht oder sich fachgerecht einhakt – und dann schreiend hinfällt, ob man will oder nicht.