Die Regisseure Jossi Wieler und Sergio Morabito treiben Beethovens Oper „Fidelio“ an der Staatsoper Stuttgart beinahe den letzten Rest Utopie aus.

Stuttgart - Als Peter Palitzsch 1988 in Hamburg Ludwig van Beethovens „Fidelio“ inszenierte, übrigens mit Nikolaus Harnoncourt am Pult, blieb er beim Originaltext – obwohl er meinte, die Dialoge seien „ziemlich grässlich geschrieben“. Palitzsch war klar, die Konstruktion würde sonst kollabieren. Der Mode, das Libretto für missraten zu halten, steht kaum die Mode nach, solche Behauptungen ernst zu nehmen. Jeder verständige Operngeher weiß, dass ein „Fidelio“ ohne Dialoge wenig mit lebendigem Musiktheater zu tun hat. Zur Anschauung reichte dieses Jahr eine Reise zu den Salzburger Festspielen, um Claus Guths Werk-Missverständnis zu erleben. Der Regisseur hatte alle Dialoge gestrichen.

 

Sergio Morabito hat Recht mit seinem Befund, warum der gesprochene Text oft zusammengestrichen wird: es hat mit dem internationalisierten Opernbetrieb zu tun. Zu wenig Proben, um Sängern das angemessene Sprechen beizubringen, Besetzungen, die des Deutschen nicht mächtig sind. Insofern ist die Inszenierung von Jossi Weiler und Sergio Morabito eine Art Manifest, das über ihre künstlerische Auseinandersetzung mit der letzten Fassung von Beethovens einziger Oper und dem Originaltext hinausgeht. Es ist ein Plädoyer für Ensemblekultur und strenge Arbeit. Nicht jeder singt bei der Eröffnungspremiere der Stuttgarter Opernsaison mit edelstem Timbre, mit Eloquenz und technischer Finesse, doch alle sind die, die sie darstellen sollen: in Figur, Gestus und Ausdruck; sie singen so, wie sie sprechen und sie sprechen so, wie sie singen. Das ist ebenso selten wie kostbar.

Die Genauigkeit, mit der der Schauspielregisseur Wieler hier vorgeht, verwandelt etwa Rebecca von Lipinski, die in ihren bisherigen Rollen am Haus selten überzeugte, stimmlich übersteuert schien, in eine Darstellerin von Format. Der Sprachaffekt wirkt wie in den Gesang verlängert, so singt Lipinski viel genauer und bewusster. Souverän nimmt sie die langen Linien im „Komm’, Hoffnung“-Abschnitt der großen Leonoren-Arie. Dabei macht es ihr der Regisseur nicht leicht, der Bitte um innerliche Stärke steht offenkundiges Verzagtsein entgegen: wider den Gestus der Musik läuft Leonore im Kreis, sinkt zu Boden. Am Ende zum „Ich wanke nicht, mich stärkt die Pflicht der treuen Gattenliebe“ attackiert sie wütend den als Vision erscheinenden Florestan. Hier erschließt die Regie eine zweite Ebene, eine Bewusstseinslage, die der gespaltenen Welt entspricht, in der das Stück spielt.

In der Mitte befindet sich ein schwarzer Kubus

Bert Neumann, der in diesem Sommer mit 54 Jahren gestorben ist, hat ein letztes Mal einen Raum entworfen, der charakteristisch für seine Bühnenbilder gewesen ist, ein Ort, der die Gleichzeitigkeit von Abstraktion und dinglicher Gegenwart schafft. Den hellweißen, rechteckigen Spielort begrenzen leicht versetzt gehängte LKW-Planen, rechts vorne ragt ein Rollband herein, rückwärtig links führt eines hinaus. Sie befördern Pakete, die gelegentlich punktgenau zur Klage „Zum Henker das ewige Pochen!“ von Jaquino (agil: Daniel Kluge) zu Boden plumpsen. In der Mitte befindet sich ein grauer Kubus mit Sehschlitz, der sein Geheimnis erst am Ende preisgibt. Von der Decke hängen in penibler Reihe 25 Mikrofone: eine Gehirnwäschefabrik. Und ein Textgefängnis. Die Übertiteltafel über dem Kubus ist zugleich ein Aufzeichnungsinstrument. Jeder gesungene Satz erscheint dort, jedoch erst nachdem er zu Ende gesungen ist, als würde er gerade eingegeben, live transkribiert. Einmal vertippt sich der unsichtbare Agenten-Chronist, streicht ein Wort aus. Nichts bleibt hier undokumentiert.

Tröstende Behausung, Erholung bieten da die orange Hollywoodschaukel und eine Zigarette. Kerkermeister ist ja kein schöner Job. Aber irgendjemand muss ihn machen. Rocco (Roland Bracht) ist der Jedermann, die zweite Hauptfigur, der Kleinbürger. Das hat nichts Behagliches mehr: in ihm toben merklich die Stürme, die die Moral niederzuringen drohen. Pflicht oder Anstand. Passivität oder Hilfe. Morden oder Lebenlassen. Aber: Liebe und Geld. Rocco bleibt der Spießer in uns, der erst zum Helden wird, Pizarros Machinationen beim Minister Don Fernando (etwas matt in der Tiefe: Roland Collett) aufdeckt, als es ihn nichts mehr kostet. Und doch ist uns Rocco sympathisch, obwohl wir ihm jederzeit misstrauen.

Er umklammert Leonores Füße und mag sie kaum loslassen

Wer vertraut wem? Wer sagt die Wahrheit und wer ist wer? „Da kam Fidelio in unser Haus, und seit der Zeit ist alles in mir und um mich verändert,“ sagt Marzelline (wunderbar keck: Josefin Feiler) und schaut fragend zu den Mikrofonen hoch. Selbst Pizarro (Michael Ebbecke) ist nicht der eindeutige Bösewicht, so wie er mit seinem albernen Mittelscheitel und dümmlichem Oberlippenbart breitbeinig daher poltert. Wie oft bei Wieler/Morabito haben die Handelnden zwei und mehr Dimensionen.

Auch Florestan im Kerker – aus weiß wurde schwarz – ist Opfer, psychisch zerstört, aber eines, das eine faule Vergangenheit hat. Es ist eine eindrückliche Szene, wenn er, nachdem Rocco ihm Wein gegeben hat, ihn wie ein kleines Tier oder ein Kind sucht, streichelt, ihn festhält, umarmt, danach Leonores Brot nicht nimmt, aber die Nahrung sucht, die allein Menschen seelisch am Leben hält: Nähe, Austausch, Körperwärme. Er umklammert Leonores Füße und mag sie kaum loslassen – doch das Erkennen seiner Frau löst nichts, befreit ihn nicht aus sich selbst.

„Meine Pflicht hab ich getan“, singt Florestan

Er ist ein Gefangener des Systems. Er wusste zuviel, weil er mitgemacht hat: ein unautorisierter Archivar von Leben, einer, der früher die Gespräche mitgeschrieben hat, die die Mikrofone auffingen, ein Stasi-Mann. Am Schluss gibt der Minister Leonore den Schlüssel für Florestans „Ketten“. Es ist eine Fernbedienung für das Tor zum schwarzen Quader. Akten über Akten enthält er, und eine Schreddermaschine, blaue Säcke mit zerrissenen Biografien. Wenn sich der Vorhang über den Jubel des geduckten Chors senkt, steht auf ihm Florestans Phrase „Meine Pflicht hab ich getan“.

Beethovens Rettungsoper, üblicherweise als tönende Feier der Humanität verstanden, wird in Stuttgart zum Abschiedsgesang auf die Utopie von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Dass es keine Dystopie wird, dagegen setzen Wieler/Morabito die handelnde Frau, Leonore, die sich zum „Töt’ erst sein Weib!“ das mit Platinenmustern bedruckte Unisex-T-Shirt ausgezogen hatte, mit stolzer Brust vor Pizarro stellte. Zum C-Dur-Getöse nun schaut sie selbstbewusst auf dem Souffleurkasten sitzend ins Publikum. Worte sind Taten, sagte Ludwig Wittgenstein. Nur Taten sind Taten, wird Leonore dagegen setzen; und oben auf der Tafel verwandelt sich der Punkt hinter dem letzten Satz der Oper in ein sich ausbreitendes Leuchten. Das Licht der Aufklärung ?

Durch diese Setzung erhält Beethovens Partitur einen neuen Wirkungsraum: Sylvain Cambreling und das fabelhaft trennscharf agierende Staatsorchester (famos das Oboensolo von Ivan Danko in der Florestan-Arie) füllen ihn aus. Die Ouvertüre litt noch unter nicht genau platzierten Akkorden, doch mit der Szene war alles da: Härte und Rauheit, Samt und Emphase, eine Musik, die nach zweihundert Jahren ungemindert fesselt, überrascht, modern ist. Wie das Stück.