Postenvergaben sind abgekartet, Bewerbungen und Zeugnisse eine Farce – so sehen das nach einem aktuellen Urteil viele Richter in Baden-Württemberg. Der zugrunde liegende Fall untermauert das Bild. Doch der Justizminister will davon nichts wissen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Wenn man im Grundgesetz eine Klausel gegen Postenschieberei und Ämterpatronage sucht, landet man bei Artikel 33, Absatz 2. Unter der Überschrift „Staatsbürgerliche Gleichstellung aller Deutschen“ steht dort in schöner klarer, leicht altertümlicher Sprache: „Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.“

 

Jeder Jurist, sollte man annehmen, kennt diese Regel. In der Justiz, die doch über die Einhaltung der Gesetze wacht, sollte sie besonders penibel beherzigt werden. Und die Angehörigen der Justiz – Richter und Staatsanwälte vorneweg – sollten davon, dass es so ist, restlos überzeugt sein. Wenn jemand unverbrüchlich an die Verfassung und den Rechtsstaat glaubt, dann hoffentlich sie.

Die Bestenauslese – eine schöne Theorie?

Doch die Annahme geht offenbar fehl. Unter den Richterinnen und Richtern in Baden-Württemberg ist „die Vorstellung weit verbreitet“, dass bei der Vergabe von Ämtern in der Justiz systematisch gegen Artikel 33, Absatz 2 verstoßen wird. So steht es, schwarz auf weiß, in einem aktuellen Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe (Aktenzeichen 2 K 3639 /14). Die Bestenauslese im öffentlichen Dienst? In der Justiz eine schöne Theorie. In der Praxis laufe es nach Überzeugung vieler Kollegen ganz anders – nämlich in der Regel so, „dass sich zunächst die Personalverantwortlichen des Justizministeriums zusammen mit dem Gerichtspräsidenten auf einen Richter einigten, der eine Stelle erhalten solle, und dem Ausgewählten daraufhin mitgeteilt werde, für ihn werde demnächst eine Stelle ausgeschrieben. Erst im Anschluss hieran erfolge die öffentliche Ausschreibung der Stelle.“

Bewerbe sich jemand anderes als der Vorgesehene auf die Stelle, wird referiert, sei das „nicht ratsam“: Es bleibe nicht nur „von vornherein ohne Erfolg“, weil die Beurteilungen entsprechend der Vorauswahl ausfielen, sondern werde „regelmäßig mit Nachteilen beim weiteren beruflichen Fortkommen sanktioniert“.

Deutliche Warnung von der OLG-Chefin

In der Justiz wird am laufenden Band die Verfassung missachtet – das wäre starker Tobak. Anlass der denkwürdigen Sätze war die Klage eines Richters am Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe, dessen Erfahrungen freilich genau in dieses Bild passten. Er hatte sich auf  die Position des Vizepräsidenten bei einem Landgericht beworben und dafür eine Beurteilung der (inzwischen pensionierten) OLG-Präsidentin Christine Hügel erbeten. Die fiel zwar überdurchschnittlich gut aus, aber nicht so gut wie erwartet und für den Erfolg notwendig. Warum, war für den Richter klar: Hügel habe ihm deutlich signalisiert, dass seine Bewerbung nicht in die Planung passe und er mit einer schlechteren Beurteilung rechnen müsse, wenn er sie aufrechterhalte; beim Bemühen um eine andere Stelle werde er hingegen ein gutes Zeugnis erhalten.

Die OLG-Chefin versicherte laut dem Urteil zwar, es sei ihr „lediglich um eine fürsorgliche Beratung und nicht um die Ausübung von Druck gegangen“. Sie habe bei dem Kläger die erwünschte Verwaltungserfahrung vermisst, eine anderweitige Planung habe keine Rolle gespielt. Doch dessen Begehren, ein neues Zeugnis zu erhalten, gab das Gericht klar statt: die Präsidentin sei befangen gewesen, ihre Beurteilung daher rechtswidrig. Nach ihrem Signal an den Aspiranten habe dieser nicht mehr davon ausgehen können, dass sie willens sei, „ihn sachlich und gerecht zu beurteilen“ – zumal sie die Eignung des ausgeguckten Favoriten zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gekannt habe. Das Bild von der Beförderungs- und daran gekoppelten Beurteilungspraxis sei dabei zu berücksichtigen gewesen.

Was nicht sein darf, das nicht sein kann?

Für die ehedem oberste Richterin in Baden war das Urteil eine schallende Ohrfeige. Ob es so Bestand hat, bleibt abzuwarten. Für die Justiz grenzte es an einen Skandal, wenn die „weit verbreitete“ Vorstellung der Mauschelpraxis tatsächlich zuträfe. Die Besetzungsverfahren wären dann eine Farce und liefen „gewissermaßen in umgekehrter Reihenfolge“ ab, malte die Kammer aus: erst die Personalauswahl, dann die Ausschreibung und in der Folge die jeweils „passende Beurteilung“. Das könne schon deshalb „nicht in jeder Hinsicht zutreffend sein“, weil dann ja systematisch gegen das Grundgesetz verstoßen würde, fügten die Richter hinzu. Was nicht sein darf, das nicht sein kann?

Es sei nicht so, versichert das baden-württembergische Justizministerium von Rainer Stickelberger (SPD). Früher, zu Oppositionszeiten, hatte er die Personalpolitik der Justiz selbst wiederholt aufs Korn genommen. Nun will er das Urteil beim Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Mannheim anfechten lassen; dieser muss zunächst über die Zulässigkeit der Berufung entscheiden. Weil es dringlichere Verfahren gebe, könne das etwas dauern, sagt ein VGH-Sprecher.

Für Stickelberger ist alles in bester Ordnung

Die noch nicht rechtskräftige Entscheidung aus Karlsruhe werde man nicht bewerten, lässt Stickelberger ausrichten. Dem zentralen Vorwurf aber widerspricht er vehement: Die Personalentscheidungen fielen keineswegs „im stillen Kämmerlein“, sondern „in einem transparenten und offenen Verfahren, das sich streng an den verfassungsrechtlich vorgegebenen Grundsätzen der Bestenauslese . . . orientiert“. Jede Bewerbung werde „unvoreingenommen und ergebnisoffen geprüft“, neben Fachkompetenz komme es etwa auf Teamfähigkeit oder Führungserfahrung an. „Eine gezielte Steuerung bei Stellenbesetzungen und Beförderungen gibt es nicht.“

Das verhinderten schon die im Land besonders ausgeprägten Mitwirkungsrechte, die der SPD-Ressortchef noch „massiv gestärkt“ habe. Gegen den Willen der Vertretungen von Richtern und Staatsanwälten könne das Ministerium keinen Kandidaten durchsetzen. Bei „allen Fragen zur beruflichen Fortentwicklung“ gäben die Personalexperten in Stuttgart freilich gerne Auskunft. Zahlen legte Stickelberger zwar nur für ein Jahr, nämlich 2015, vor (siehe Infokasten), doch daraus zieht er ein generelles Fazit: Die laut dem Urteil „weit verbreitete Vorstellung“ der Mauschelpraxis entbehre „jeder empirischen Grundlage“.

Wie unterschiedlich die Richterverbände urteilen

Wird bei der Personalpolitik in der Justiz permanent gemauschelt, oder läuft alles blitzsauber ab? Bei den Berufsverbänden der Richter und Staatsanwälte im Südwesten gehen die Meinungen darüber ebenso auseinander wie zwischen dem Verwaltungsgericht und dem Ministerium. Während der eher konservative Verein der Richter und Staatsanwälte im Deutschen Richterbund – mit 1800 Mitgliedern die größte Vertretung – die Praxis im Land tendenziell lobt, hat die kleinere, eher linksliberale Neue Richtervereinigung (NRV) sie schon früher massiv angeprangert.

Zum Karlsruher Urteil will Matthias Grewe als Landesvorsitzender des Richtervereins schon deshalb nichts sagen, weil es noch nicht rechtskräftig sei. Die darin „durchschimmernde Üblichkeit einer gesetzeswidrigen Praxis“, die im Ergebnis dann doch verneint werde, könne man jedenfalls „nicht bestätigen“. Das Gericht sage zudem nicht, worauf es seine Erkenntnis gründe.

Richterbund sieht insgesamt gelungenes System

Wichtig ist Grewe, dass Parteibuch oder Parteinähe bei der Besetzung von Posten „keine Rolle spielen“. Es gebe Bundesländer, da würden Präsidenten „nach aktuellem Proporz der Regierungsparteien“ ausgewählt – oder das Bekenntnis zu einer Partei führe faktisch zum Ausschluss von einem solchen Amt. Welche Länder gemeint sind, bleibt offen. „Das gibt es in Baden-Württemberg nicht“, konstatiert der Verbandschef – zum Wohl des Ansehens der Justiz als unabhängige dritte Gewalt.

Unabhängig vom Land sei bei der Personalentwicklung die Frage der Beurteilung stets der „empfindlichste Schwachpunkt“. Hier habe der Südwesten in den vergangenen Jahren ein „insgesamt gelungenes System“ mit möglichst objektiven Maßstäben entwickelt, lobt der Direktor des Amtsgerichts Ravensburg.

Richtervereinigung spricht von Camouflage

Der Landeschef der Neuen Richtervereinigung, Johann Bader, wollte sich aktuell nicht zu dem Urteil äußern. In der Verbandszeitschrift „NRV-Info“ hatte Bader freilich bereits 2015 mit der Praxis unter Stickelberger abgerechnet. Sein Fazit damals: bei dem SPD-Mann, der die eingeschliffenen Verhältnisse eigentlich habe ändern wollen, gehe es „weiter wie gehabt“. Unverändert stehe schon vor der Ausschreibung fest, wer eine Stelle bekommen solle. „Kurioserweise“ melde sich stets genau der Bewerber, der gewünscht sei. Das nachfolgende Verfahren sei reine „Camouflage“, die Mühe könne man sich sparen. „Heraus kommt immer das von Anfang an gewünschte Ergebnis“, bilanzierte der Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht Stuttgart.

Nur eines habe sich unter Stickelberger geändert, aber nicht zum Besseren, schrieb Bader. Früher habe man noch gewusst, wer die Personalentscheidungen treffe: Michael Steindorfner, der langjährige CDU-Amtschef der FDP-Minister Ulrich Goll und Corinna Werwigk-Hertneck. Zuweilen habe man auch den Eindruck gehabt, sie seien „eher in Oberitalien“ gefallen – offensichtlich eine Anspielung auf den früheren Stuttgarter Oberlandesgerichts-Präsidenten Eberhard Stilz (CDU), dem ebenfalls ein hoher Einfluss in Personalfragen nachgesagt wurde. In seinem Feriendomizil am Lago Maggiore versammelte er regelmäßig Kollegen um sich. Ein von Stilz geschätzter und geförderter Jurist mit FDP-Parteibuch ist heute übrigens Personalchef im Justizministerium. Stickelberger ließ ihn bei seinem Amtsantritt auf dem Posten, zum Befremden mancher Parteifreunde. Wer am Stuttgarter Schillerplatz wirklich die Entscheidungen treffe, monierte Bader, bleibe intransparent. Besetzungsvorschläge würden heute „von Subalternbeamten unterschrieben“, die „nie und nimmer“ dafür maßgeblich seien.