Anna und Tom sind geistig behindert und haben zwei Kinder. Dass Henry, zwei Jahre alt, bei ihnen bleiben kann, ist einem engagierten Angebot zu verdanken: dem Wohnhaus Tandem in Hamburg.

Hamburg - Sie haben sich im Bus kennengelernt. „Ich fand sie gut“, sagt Tom*, 24. „Jeden Morgen waren wir unterwegs zur Behindertenwerkstatt“, erzählt Anna*, 25. Sie hätte da eine Ausbildung gemacht. „Ich hab am liebsten gekocht. Tom mochte es eher, mit Holz und Metall zu arbeiten.“

 

Anna wirkt nicht behindert, nicht auf den ersten Blick. Sie hat sich Strategien zurechtgelegt. Spricht Satzenden mit, wenn das Gesagte vorhersehbar ist. Hat aber Probleme, Zusammenhänge herzustellen oder zukunftsorientiert zu denken. Von „Menschen mit kognitiven Einschränkungen“ sprechen die, die mit Tom und Anna zu tun haben. Die Ursachen? Eine schlecht durchblutete Plazenta in der Schwangerschaft, eine Kinderkrankheit, zu wenig Sauerstoff bei der Geburt. Der Mensch hat dann später Probleme im Alltag.

Irgendwann, sagt Anna, sei es passiert. Ihre Regel blieb aus. Ihre Augen haben plötzlich einen glänzenden Film, so, als müsse sie weinen, wenn sie an ihr erstes Baby denkt: „Patrick kam weg, da war er vier Monate alt.“ Patricks Haut war anspruchsvoll, musste viel gecremt werden. Anna fand das anstrengend. Tom findet: „Die anderen Mütter in der Wohngruppe waren alle nicht geistig behindert, das war unfair.“ Die Betreuer hätten so getan, als könnte sie das alles genauso. „Hier, im Tandem, ist es besser“, sagt Anna, die nur elf Monate nach Patrick einen zweiten Sohn zur Welt gebracht hat: Henry.

Wenn sie nicht mehr weiter weiß, greift Anna zum Telefon

Anna, Tom und Henry sind eine von insgesamt elf Familien, die im „Wohnhaus Tandem“ untergebracht sind, ein Angebot der „alsterdorf assistenz ost gGmbH“ „Auch hier komm ich immer wieder an Grenzen“, gibt Anna zu. Auch Henry war immer mal wieder wund und die 25-Jährige so mit den Nerven am Ende, dass sie am liebsten weggerannt wäre. Aber im Tandem braucht sie nur zum Hörer zu greifen und im Bereitschaftszimmer einen Stock tiefer anzurufen und zu sagen: „Ich kann nicht mehr.“ Oder „Ich brauch da einen Rat.“ Ein elfköpfiges Team aus Pädagogen und Sozialarbeitern arbeitet in der Einrichtung. Jede Mutter und jeder Vater hat einen persönlichen „Assistenten“, der täglich in festgelegten Bereichen wie Haushalt, Spielen, Freizeitgestaltung hilft. Ein weiterer Mitarbeiter ist expliziert für das Kind da, soll aber nicht in die Elternrolle rutschen. Die sogenannte Kinderförderung ist daher auf zwei Stunden pro Woche begrenzt und findet auf Spielplätzen oder beim Legobauen statt. Im Anschluss wird der kindliche Entwicklungsstand dokumentiert.

Fünfzehn Jahre alt ist das Tandem und in der Form bundesweit einzigartig. Sieben weitere stationäre Häuser gebe es, sagt Einrichtungsleiterin Elfie Ruzanska, „nirgends sonst aber werden ganze Familien aufgenommen“. Dass ihr Haus noch immer als ungewöhnlich gelte, zeige, wie schwierig es für unsere Gesellschaft sei, mit dem Thema Behinderung und Elternschaft umzugehen. Fassungslos ist die 60-Jährige, wenn sie daran denkt, dass die beeinträchtigten Mädchen und Frauen in Deutschland noch bis vor gut zwanzig Jahren, konkret bis zur Änderung des Betreuungsgesetzes 1992, zwangssterilisiert wurden.

Die Pädagogin ist sich sicher, dass viele immer noch denken: Es ist besser, wenn „solche Leute“ keine Kinder kriegen. „Aber dass jemand nicht gut mit Geld umgehen kann oder Schwierigkeiten hat, sich zu organisieren, heißt doch nicht, dass sein Herz nicht bereit ist, alles zu geben für ein Kind.“

Antje Engel hilft und kontrolliert Anna und Henry. Foto: Knop

Man muss nur im ersten Stock des Wohnhauses ab der Treppe nach rechts gehen, und es wird klar, was sie meint. Der zweijährige Henry quietscht, hüpft ausgelassen zwischen jeder Menge blinkendem Plastikspielzeug. Er fällt der Mama in die Arme. Krabbelt dem Papa auf den Bauch. Robbt sich wieder hoch, rennt wieder zur Mama. Die greift jetzt einen Ball, schaut das Kind an, fragt: „Magst du?“ Sozialpädagogin Antje Engel, Annas Assistentin , hält sich im Hintergrund. Die „Spielzeit“, wie sie nennt, was da gerade läuft, findet täglich statt. „Toll, wie du mit deinem Kind sprichst“, wird Anna von Antje Engel gelobt, während Mutter und Kind das Zimmer in ein Fußballfeld verwandeln. Henry ist ein Wirbelwind, der ganze kleine Körper ist Kommunikation. „Eine Zeit lang war es schwierig, sind die Eltern nicht auf seine Signale eingegangen“, sagt Engel. Zu viele Angebote, ein Spielzeug hier, ein Spielzeug da, kein wirkliches Sicheinlassen. „Rechtzeitig eingreifen, die Eltern anleiten – das ist entscheidend, um Entwicklungsverzögerungen zu vermeiden“, sagt Antje Engel.

Auch wenn Paare wie Tom und Anna wohl nie komplett alleine leben und den Alltag als Familie bewerkstelligen werden können: die stationäre Unterbringung wie im Tandem ist nur ein Übergang. Ambulante Wohnformen, wo nur an manchen Tagen jemand kommt und guckt, werden angestrebt. „Dieses Haus ist ein Übungsfeld“, sagt Antje Engel. Und bringt nun hinter sich, was immer ein wenig heikel ist: die Wohnungskontrolle. Heikel deshalb , weil es bei sogenannten Hilfeplangesprächen mit dem Jugendamt regelmäßig Updates gibt: Was läuft schon gut, wo gibt es noch Unterstützungsbedarf? Dann wird entschieden: Kann die Hilfe so weiterlaufen? Elfie Ruzanska mag nicht drumrum reden: „Es gab schon Familien, da wurden Eltern und Kinder getrennt, auch bei uns.“

„Das geht so nicht, das weißt du“, sagt Antje Engel jetzt und deutet auf das Kabel eines Rasierapparats, das im Bad zu Boden hängt. Alle elektrischen Geräte außer Reichweite des Kindes, so lautet eine Regel. Eine andere: Keine Tüten auf dem Boden! Müll sortieren! Oder auch: Kühlschrank regelmäßig ausmisten! Antje Engel schaut sich die Haltbarkeitsdaten mehrerer Milchprodukte an. Die Familien bekommen Haushaltsgeld, dürfen selbst entscheiden, was gegessen wird. Jeden Abend Frittiertes – über so was aber wird gesprochen. Nicht mit erhobenem Zeigefinger zwar, aber kritisch. Bei Antje Engel fällt auf, wie oft sie Anna lobt, ihr wie beiläufig die Hand auf den Rücken legt, um zu signalisieren: Du machst das schon.

Man darf den Eltern nicht die Verantwortung nehmen

Der Bedarf bestimmt, wie viel Zeit die Assistenten in der Familie verbringen. Da Antje Engel, Annas Hauptassistentin, auch für andere Familien im Haus einspringt – sonst wäre der 24-Stunden-Dienst nicht machbar – ist sie häufig vor Ort und kann spontan geholt werden. Etwa, wenn Tom und Anna sich streiten. Wie neulich beim Einkaufen. Tom hatte Windeln holen wollen, Anna blieb mit Henry vor dem Supermarkt und wunderte sich, wo Tom so lange blieb. „Bin halt schon vorgegangen“ – für Anna, die ihren Freund wenig später in der Wohnung fand, war das keine Erklärung. „In solchen Situationen wird es zuweilen sehr emotional“, sagt Antje Engel. Gefühle und Bedürfnisse äußern, das muss Anna lernen: Ich war traurig, als du plötzlich weg warst. Ich hab mir Sorgen gemacht . . .

Gerald Jörs, Toms Assistent, hat eine ruhige, sympathische Ausstrahlung. „Bei Auseinandersetzungen stehe ich an Toms Seite“, sagt er. Zu stark für die andere Seite argumentieren, das würde das Vertrauensverhältnis belasten. Oft gehen Jörs und Tom eine Runde um den Block. Und oft fragt sich der Pädagoge: Was eigentlich ist behindert? Die Ampel, die jetzt bei Tom und Anna im Flur hängt und dabei helfen soll, kritische Situationen frühzeitig zu erkennen – ein entsprechender Zeiger wird dann umgestellt –, könnte auch vielen sogenannten normalen Partnerschaften helfen.

„Letztlich ist es oft nur ein Tick mehr Unterstützung, den die Bewohner brauchen“, sagt Jörs. Und dass aus Tom, der vor eineinhalb Jahren oft eher teilnahmslos wirkte, ein so liebevoller und begeisterter Vater geworden sei. Gerald Jörs hat ihm vieles gezeigt: wie man wickelt oder Brei kocht, vor allem aber hat er die Freude, die er dabei beobachten konnte, für Tom in Worte gefasst und Wert darauf gelegt, dass dadurch bei dem jungen Vater mit der Zeit so etwas entstehen konnte wie väterlicher Stolz. „Ich mach das an seiner statt – so zu denken ist falsch“, so der Pädagoge. Auf genau diese Einstellung aber trifft er immer wieder. „Bitte erklären Sie es dem Vater“, sagt der 51-Jährige zum Beispiel, wenn Kinderärzten am liebsten alles mit ihm besprechen wollen und Tom einfach ignorieren.

Selbstständigkeit der Kinder wird gefördert

Elfie Ruzanska kennt dieses Argument: man wolle schließlich das Beste. Für das Kind. Sie selbst denkt weiter. Denkt an den 18-Jährigen, einen der ersten Tandem-Kinder, der weiter regelmäßig zu Besuch kommt. „Mag sein, er würde heute studieren und nicht ‚nur‘ eine Ausbildung machen, hätte er andere Eltern gehabt.“ Andererseits: so bemüht Adoptiveltern auch seien, solch ein Schritt kappe Wurzeln, bleibe für viele ein Lebensthema. Der junge Mann hingegen, der inzwischen von Hamburg weggezogen sei und nur noch an den Wochenenden käme, sei spürbar im Reinen mit seiner Biografie. „Ja, der Mama geht’s gut. Danke. Sie lässt schön grüßen.“

„Die Bewohnerkinder sehen es nicht als Nachteil, behinderte Eltern zu haben“, sagt Elfie Ruzanska. Viele, das sei Tatsache, würden die Mutter und den Vater eines Tages kognitiv überholen, spätestens mit dem Schuleintritt gehe das los. Hier sei Fingerspitzengefühl gefragt. „Unsere Assistenten sagen nicht: Deine Mama, dein Papa kann das nicht. Sondern: Dafür sind andere zuständig.“ In diesem Bewusstsein würden die Kinder aufwachsen. Viele würden früh in Vereine gehen, auch der Kindergarteneintritt im Alter von etwa einem Jahr hat diesen Grund: die Selbstständigkeit zu fördern. Das Gefühl: Ich kann mir anderswo Hilfe holen. Mutterliebe oder Vaterstolz, das gibt’s nicht stellvertretend. Und wirklich glücklich scheint Henry vor allem hier.

Das Fußballspiel ist beendet, Anna hat ihn in die Badewanne gesetzt. Shampooniert liebevoll den kleinen Kopf. Stellt schon mal die Creme bereit, für hinterher. „Henry bleibt bei uns“, sagt sie, die ihr erstes Kind inzwischen einmal im Monat bei der Pflegefamilie besuchen darf. Manchmal träumt sie. Von einem Haus für die Familie, mit Garten und Pool. „Tom geht arbeiten, kommt abends heim.“ Und er sagt, er wolle auch wieder in eine Behindertenwerkstatt gehen. Aber das mit dem Bewerbungsschreiben hätte Zeit. Jetzt sei er erst mal Papa. „Ich will alles tun, dass Henry es einmal besser hat“, sagt er. Und korrigiert sich schon im nächsten Moment. „Henry soll es einmal besser haben, als wir es hatten, meinte ich.“ Denn hier im Tandem sei es eigentlich „ziemlich gut“.

* Namen geändert