Eigentlich ist die medizinische Versorgung in Stuttgart mehr als gut – es gibt sogar ein Überangebot an Ärzten. Doch das gilt nicht für Menschen mit einer Behinderung. Das ist das Ergebnis einer Studie.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Wenn ein geistig behinderter Mensch zum Arzt muss, zieht das oft Probleme nach sich. „Eigentlich gibt es in Stuttgart mehr als genügend Ärzte aller Fachrichtungen“, sagt Jürgen Rost von der Behindertenhilfe der Caritas. Für erwachsene geistig behinderte Menschen gelte das aber nicht. Dass die Gesundheitsversorgung für diese Zielgruppe in Stuttgart nicht ausreichend gesichert ist, ist auch das Ergebnis einer aktuellen Studie des Instituts für angewandte Sozialwissenschaften (Ifas). Mehr als 500 Menschen wurden befragt, darunter geistig Behinderte, Angehörige, gesetzliche Betreuer, Sozialarbeiter sowie 214 Ärzte – um aufzuzeigen, welche Barrieren es in Stuttgart gibt.

 

Die Studie ist auch vor dem Hintergrund eines mit der Inklusion einhergehenden Wandels interessant: Früher lebten geistig Behinderte mehrheitlich in großen Einrichtungen, die aus gutem Grund von kleineren Einheiten abgelöst worden sind. Einen Vorteil hätten die Großeinrichtungen aber gehabt, sagt Jürgen Rost, der auch einer der Kooperationspartner der Studie „Barrierefrei gesund“ ist. Die ärztliche Versorgung sei in den Großeinrichtungen im Gegensatz zu ihren Nachfolgern gesichert gewesen. In der Folge suchen geistig Behinderte inzwischen vermehrt normale Praxen auf. Doch „bei den Ärzten gibt es Berührungsängste“, berichtet Rost.

Zu viele aufwändige Fälle belasten das Praxisbudget

Der Stuttgarter Ärztesprecher Markus Klett bestätigt die Entwicklung, dass mehr geistig Behinderte in die Praxen kommen: „Durch die Veränderung der Wohnstrukturen entstehen neue Bedürfnisse.“ Der Umgang mit Behinderten erfordere eine besondere Qualifikation, außerdem benötige die Behandlung deutlich mehr Zeit – mindestens doppelt so viel. Bezahlt werde den Ärzten dieser Mehraufwand jedoch nicht. „Für einen Nichtbehinderten kriegen Sie das gleiche Geld, das geht nicht auf“, erläutert Klett. Natürlich gelte, dass man als Mediziner vom Grundsatz her jeden Menschen behandele, aber ein Arzt könne sich aus Budgetgründen zu viele schwierige Fälle nicht leisten. Dann stimme die finanzielle Balance in der Praxis nicht mehr, erklärt Klett den Umstand, wie es dazu kommt, dass geistig Behinderte zum Teil Probleme bei der Arztsuche haben.

Auch in der Ifas-Studie werden die Faktoren Zeit und Geld als Knackpunkte identifiziert: „Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln können die in der Behindertenrechtskonvention formulierten Rechte von Menschen mit einer Behinderung nicht umgesetzt werden“, heißt es beispielsweise im vierten Kapitel. Als weitere Barrieren beim Thema Gesundheit werden unter anderen Verständigungsprobleme genannt (wenn die Sprache der Ärzte zu kompliziert ist), aber auch räumliche Hindernisse (zum Beispiel fehlende Aufzüge).

Kosten für Begleitpersonen werden nicht übernommen

Die Behindertenbeauftragte der Stadt, Ursula Marx, begrüßt, dass die Studie die „Riesendefizite“ im Gesundheitssystem benennt. Sie habe laufend Anfragen von Betroffenen, „die nicht wissen, zu welchem Arzt sie gehen sollen“, berichtet Marx. Auch Klinikaufenthalte seien ein großes Problem. Denn Behinderte benötigten eigentlich Begleitpersonen, doch die Kosten für deren Aufenthalt wird anders als bei Kindern von den Krankenkassen nicht übernommen.

Auch in den Interviews für die Studie haben Befragte über Frusterlebnisse erzählt: „Mein Zahnarzt hat [zu meiner Mutter] gesagt: ,Ich kann Ihre Tochter nicht behandeln, Sie müssen zu einer anderen Zahnärztin gehen’ und davor hat er mir auch weh getan“, sagte eine geistig behinderte Frau. Was überrascht: 83 Prozent der befragten geistig Behinderten zeigten sich zufrieden mit ihren Ärzten – ein Teilergebnis der Studie, das aus dem Rahmen fällt.

Die Autorinnen der Studie regen den Aufbau eines Kompetenznetzwerkes in Stuttgart an, einhergehend mit Schulungen und Weiterbildungen. Wie dieses Kompetenznetzwerk konkret ausgestaltet sein soll, darüber findet sich aber relativ wenig.

Behinderte Kinder haben eine Anlaufstelle

Der Ärztesprecher Klett fordert im Gespräch eine angemessen Einzelfallhonorierung für die Behandlung geistig behinderter Menschen. Außerdem schlägt er vor, dass die Gemeinde Amtsärzte beauftragt, um die Versorgungslücke zu füllen. Letzteres hält Ursula Marx aber für „keinen Lösungsweg, dann haben wir wieder Exklusion.“ Die Ärztekammern hätten einen Versorgungsauftrag zu erfüllen. „Und der hört nicht beim behinderten Menschen auf.“

Behinderte Kinder haben immerhin in Stuttgart eine Anlaufstelle: das sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) im Olgahospital. Aber auch dessen Leiter Andreas Oberle sagt: „Es gibt in der Versorgung nicht die Strukturen, die notwendig sind.“ Er stehe regelmäßig vor dem Problem, den volljährig gewordenen Patienten oder ihren Angehörigen zu vermitteln, dass das SPZ keine Erwachsenen mehr behandeln darf.

Die Große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag eigentlich angekündigt, bundesweit sozialmedizinische Zentren für Erwachsene Menschen mit Behinderung einzuführen analog zu den pädiatrischen Zentren für Kinder. Dass bisher nichts passiert ist, liegt am Geld. Die Kassen wollten hierfür weniger ausgeben als für das SPZ, berichtet Oberle. Damit ließe sich der Aufbau eines Erwachsenenzentrums aber nicht finanzieren.