Die eine Firma gibt geistig behinderten Menschen eine Chance, die andere beschäftigt doppelt so viele Schwerbehinderte wie sie müsste. Zwei Beispiele aus der Region, wie Inklusion im Arbeitsleben aussehen kann.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Martin Gitter hält sich ein Kabel dicht vors Auge, liest die Beschriftung ab. Ein Blick auf einen Bildschirm, ein Blick auf den Modulkasten vor sich. Dann greift er zu einem Schraubenzieher und fängt an, das Kabel an der richtigen Stelle festzuschrauben. Das erste von rund 50 an diesem Tag. Ein paar Meter weiter steht Dietmar Elsäßer an seinem Arbeitsplatz und schneidet Kabel zu. Er hat bereits das geschafft, worauf Martin Gitter hinarbeitet: nach dem Praktikum als regulärer Mitarbeiter übernommen zu werden. Das ist vor allem deshalb etwas besonderes, weil beide eine geistige Behinderung haben, wenn auch eine leichte.

 

Martin Gitters Chancen stehen gut. Bei der Firma E+H Gross ist man zufrieden mit seiner Arbeit – und, was auch wichtig ist, die Erfahrungen mit Dietmar Elsäßer sind positiv. Im April 2014 hatte er sein Praktikum begonnen, seit Oktober 2014 ist er fest angestellt. „Er ist super zuverlässig, er hat einen guten Ruf“, lobt der Chef des Stuttgarters, der Betriebsleiter im Werk II, Harald Funk. Daher wolle man das Engagement ausbauen. Insgesamt sind rund 120 Menschen bei der Ditzinger Firma beschäftigt, die Schaltschränke baut und diese international vertreibt. Man sei in den vergangenen Jahren stark gewachsen – da wolle man auch etwas zurückgeben, erklärt Funk, der glaubt, dass es sich positiv aufs Betriebsklima auswirkt, wenn man sich sozial verhält. Menschen mit Behinderung einzustellen, gehört für ihn dazu.

Unternehmen können sich freikaufen

Betriebe mit mehr als 20 Arbeitsplätzen sind gesetzlich verpflichtet, mindestens fünf Prozent schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Doch diese Quote wird meist über Ausgleichszahlungen umgangen. Laut der Agentur für Arbeit in Stuttgart geben aber in der Region immer mehr Arbeitgeber Menschen mit Behinderung eine Chance. 2013 seien im Schnitt 21 280 Schwerbehinderte im Agenturbezirk in Beschäftigung gewesen. Vier Jahre zuvor waren es lediglich 19 981. 30,9 Prozent arbeiten in der öffentlichen Verwaltung; 27,5 Prozent sind im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt. Nach der Art der Behinderung wird in der Statistik nicht unterschieden.

„Ich glaube, dass Firmen, die sich da grundsätzlich verwehren, das Nachsehen haben“, sagt Friedemann John. Er ist der Leiter der Personalentwicklung und Ausbildung beim Flughafen Stuttgart. Der Flughafen gehört laut der hiesigen Arbeitsagentur zu den besonders vorbildlichen Arbeitgebern in Sachen Inklusion. So kann John auf eine Schwerbehindertenquote von fast zehn Prozent verweisen – sie liegt also ungefähr doppelt so hoch wie vorgeschrieben. Ein Rollstuhlfahrer, der bei ihnen beschäftigt ist, habe ihm mal gesagt, dass er 60 Bewerbungen geschrieben habe. Der Flughafen war das einzige Unternehmen, das ihn eingeladen hat. Ein anderer Mitarbeiter habe einen Herzfehler und falle daher immer mal aus. Doch das ist für John nicht entscheidend: Ihm sei wichtig, dass seine Mitarbeiter Neugier und Interesse mitbringen. Das tut der Mann. „Ich bin von den Leistungen nie enttäuscht worden“, sagt John über die schwerbehinderten Mitarbeiter am Flughafen.

Auch das Unternehmen profitiert

Er glaubt, dass das Unternehmen davon profitiert, Schwächeren eine Chance zu geben. Gerade für die jüngere Generation sei es bei der Wahl des Arbeitgebers wichtig, wie sozial ein Unternehmen aufgestellt ist. John ist überzeugt, dass es sich für den Flughafen auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels auszahlt, das Potenzial behinderter Menschen zu nutzen.

Lerneingeschränkte Menschen, wie Dietmar Elsäßer, beschäftigt der Flughafen bisher nicht. Aber es gibt eine Kooperation mit dem Anna-Haag-Mehrgenerationenhaus, so dass sechs ehemalige Förderschüler einen Teil ihrer Ausbildung am Flughafen absolvieren können. John will aber nicht ausschließen, dass sie sich geistig Behinderten in Zukunft stärker öffnen könnten. „Wir sind da offen“, sagt er.

Ein Pate hat den neuen Kollegen in der Anfangszeit betreut

„Es braucht Engagement“, sagt Harald Funk. Die Integration von Dietmar Elsäßer hat die Ditzinger Firma bewusst begleitet: Ein Kollege hat ihn in den ersten Monaten als Pate betreut, die Arbeitsdokumentation wurde für ihn vereinfacht, der Arbeitsplatz so gestaltet, dass nur das Werkzeug dort liegt, das er auch benötigt. Druck wird von dem 32-Jährigen fern gehalten. Während der Zeit des Praktikums stand ihm ein Jobcoach vom Behindertenzentrum BHZ Stuttgart zur Seite. Inzwischen kommt Elsäßer alleine zurecht. „Und wenn ich mal etwas nicht weiß, frage ich meine Kollegen, die sind hilfsbereit. Die sind zufrieden mit mir“, sagt er.

Bei Dietmar Elsäßer ist die Behinderung angeboren, bei Martin Gitter nicht. 20 Jahre habe er als Bäckergeselle gearbeitet, berichtet Gitter. Dann bekam er die Diagnose Hirntumor. In der Backstube habe es nach der Operation nicht mehr geklappt. Eine Umschulung war erfolglos. Martin Gitter kam ins Behindertenzentrum, wo er zum Vorsitzenden des Werkstattrats aufstieg. Sollte er übernommen werden, wäre es für die Werkstatt des BHZ ein Verlust, sagt sein Jobcoach Helmut Klement. Denn Gitter zählt zu „den Leistungsträgern“, wie zuvor Dietmar Elsäßer. Die Übernahme in reguläre Beschäftigungsverhältnisse, wie im Fall Elsäßer, gelinge dennoch bisher nur selten, heißt es beim BHZ.