In unserer Serie nehmen wir Platz auf dem Beifahrersitz. Heute: In der Stadtbahn.

Stuttgarter Norden - Wenn Marc Rehm durch die Frontscheibe schaut, dann hat er keinen Blick für bunte Blumen, den blauen Himmel, das Treiben auf Großbaustellen oder junge hübsche Damen, die auf einer Parkbank sitzen. Nein, der Stadtbahn-Fahrschüler muss auf andere Dinge achten: Hinter welchem geparkten Auto könnte ein Kind hervorlaufen, hat die Seniorin das Klingeln gehört und überquert jetzt nicht die Schienen, reicht der Platz, um mit dem 56 Tonnen schweren und 40 Meter langen Zug am Lastwagen vorbeizukommen, der an der rechten Straßenseite parkt. „Mit der Zeit kommt die Routine“, sagt Robert Westphal, der seinem Schüler über die Schulter schaut und der selbst ein alter Stadtbahn-Hase ist: Vor 25 Jahren hat der heute 50-Jährige bei den Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) angefangen, seit 17 Jahren ist er Fahrlehrer und kennt sämtliche Strecken der Landeshauptstadt aus dem Effeff.

 

Die Ausbildung dauert 55 Tage

55 Tage dauert bei den SSB die Ausbildung zum Stadtbahnfahrer, auf dem Stundenplan stehen neben Theorie und Praxis auch Übungen am Fahrsimulator und ein Computertraining. Nach sechs Wochen gibt es eine Zwischenprüfung, am Ende warten schließlich fünf Abschlussprüfungen: schriftlich, mündlich, am Simulator, auf der Strecke. Außerdem müssen die Kandidaten unter Beweis stellen, wie sie mit Störungen umgehen. Von denen können im Laufe des Berufslebens einige auf den Fahrer lauern. Sie reichen von blockierten Türen bis hin zu Stromausfällen in der Oberleitung. Hier gibt es laut Westphal eine ganz klare Prämisse: „Der Fahrer muss den Zug von der Strecke kriegen.“ Gelingt das nicht, dann drohen weitreichende Folgen, schlimstenfalls werden ganze Strecken blockiert. Wegen der immer höher entwickelten Technik, so erzählt Westphal, würden Störungen immer komplizierter: „Früher kam man mit einem Schraubenschlüssel zurecht, heute braucht man einen Laptop.“

Wo bei einem Auto mit Schaltgetriebe das Kupplungspedal sitzt, da gibt es im Führerstand einer Stadtbahn das „Totmann-Pedal“. Egal, ob auf freier Strecke oder an der Haltestelle, das Pedal muss ständig gedrückt werden. Geschieht das nicht, wird der Zug automatisch angehalten. Der rechte Fuß hat zwei Aufgaben: Entweder drückt er auf die Klingel oder auf die Schienenbremse. Bewegt wird die Bahn mit der linken Hand. Die ist für den so genannten Sollwertgeber, eine Art Steuerknüppel, zuständig. Wird er nach vorn geschoben, dann setzt sich der Zug in Bewegung, wird er nach hinten geschoben, dann wird gebremst. Alle 20 Sekunden muss der Hebel kurz gedrückt werden, so wird die Wachsamkeit des Fahrers überprüft. Geschieht das nicht, ertönt ein Warnsignal und die Bahn wird vier Sekunden später automatisch angehalten.

Sicherheit kommt vor Pünktlichkeit

„Ich habe es mir einfacher vorgestellt. Ich hätte nicht gedacht, dass so viel dahinter steckt“, erzählt Marc Rehm. Seit zwei Monaten ist er Fahrschüler, die Zwischenprüfung hat der 31-Jährige bereits erfolgreich hinter sich gebracht. Bei der einen oder anderen Situation fragt er unterwegs seinen Fahrlehrer um Rat, den Zug mit seinen 1200 Pferdestärken hat er bereits sehr gut im Griff. Die 1200 PS braucht man unter anderem, um die Alexanderstraße hoch zu kommen, die mit 8,5 Prozent die größte Steigung in Stuttgart hat. Die Lieblingsstrecke von Westphal ist die der U 14. Die führt zum Teil übers Land, das ist übersichtlich und daher relativ entspannend. Ganz anders die U 2. Die ist viel in der Innenstadt unterwegs, entsprechend höher muss die Konzentration sein. Besonders beliebt sind Tunnelfahrten. Dort darf man bis zu 80 Stundenkilometer fahren (Normal sind 50), keine Autos oder Fußgänger sorgen für gefährliche Situationen.

Für SSB-Fahrer gilt laut Westphal ein eiserner Grundsatz: „Sicherheit geht vor Pünktlichkeit und vor Wirtschaftlichkeit.“ Vor allem was das Thema Sicherheit angeht, müssen die Fahrer stets auf der Hut sein und einen siebten Sinn für aus dem Nichts auftauchende Gefahren entwickeln. „Das Schlimmste sind Leute mit Smartphones und mit Kopfhöreren“, sagt Westphal. Immer mehr Menschen würden schlichtweg nicht registrieren, was um sie herum vorgehe. Die hören weder das Klingeln der Stadtbahn noch sehen sie die Blinklichter an den Übergängen, die vor einem herannahenden Zug warnen.

Wer Stadtbahnfahrer werden will, braucht einen Schulabschluss, einen Autoführerschein, ein makelloses Führungszeugnis und am besten noch eine abgeschlossene Berufsausbildung. Das Mindestalter ist 21 Jahre. Momentan bilden die SSB 15 Leute aus, Frau ist keine dabei. Dennoch, so erläutert Westphal, nehme der Anteil weiblicher Kolleginnen zu. „Frauen sind gefühlvoller als Männer. Ihr technisches Verständnis ist gleich“, beschreibt er seine Erfahrungen. Insgesamt beschäftigen die SSB ungefähr 600 Stadtbahnfahrer und -fahrerinnen. Die Arbeitszeit beträgt acht Stunden am Tag, davon dürfen nicht mehr als sechs Stunden am Stück gefahren werden.

Obwohl es für die Fahrgäste so aussieht, als hätte der Mann oder die Frau im Führerstand einer Stadtbahn einen leichten Job, stellt sich die Situation in der Realität laut Robert Westphal anders da. Zwar hielten sich die körperlichen Belastungen in Grenzen, Konzentrationsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein hingegen würden überdurchschnittlich gefordert. Deshalb sei klar: „Wenn man acht Stunden gefahren ist, dann ist man abends platt wie ein Pfannkuchen.“