„Saubere Energie“ könnte ein Leitbild für Europa werden. Dazu bedarf es gemeinsamer Lösungen, meinen Günther Oettinger und Guido Westerwelle.

Stuttgart - Vielen mag heute kaum mehr bewusst sein, dass ein Plan zur Energiezusammenarbeit die Geburtsstunde der Europäischen Union war. Die gemeinsame Kontrolle über Kohle und Stahl im Rahmen der Montanunion bildete den Kern, aus dem die heutige Europäische Union erwachsen ist. Das europäische Einigungswerk hat uns Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht. Heute aber steht Europa vor ganz neuen Aufgaben: eine beispiellose Staatsschuldenkrise, eine Weltordnung im Umbruch und ein allgemein nachlassender Rückhalt für den Europagedanken. Um diese Bewährungsprobe zu bestehen, braucht das Projekt Europa dringend neue Energie.

 

Die Überwindung der Schuldenkrise und nachhaltiges Wachstum sind die vorrangige Aufgabe. Wir dürfen aber unseren Blick nicht auf die Finanzkrise verengen. Die großen Herausforderungen unserer Zeit können nur bewältigt werden, wenn Europa zu einem globalen Akteur von Gewicht wird. Neues Vertrauen in Europa wird nur entstehen, wenn uns bewusst wird: die Integration ist nicht nur eine vergangene Erfolgsgeschichte, sondern auch die beste Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit.

Die vor uns liegenden Aufgaben machen eine neue Debatte über die Zukunft der Europäischen Union erforderlich. Dabei müssen wir uns drei Aufgaben stellen: Erstens benötigen wir ein klares und ehrgeiziges Leitbild von Europa als globaler Gestaltungskraft. In den rasant wachsenden Gesellschaften der Schwellenländer entstehen neue Kraftzentren. Die einzelnen Staaten Europas laufen Gefahr, weiter an relativem Einfluss zu verlieren. Ein funktionierender globaler Ordnungsrahmen muss erst entstehen, bei der Regulierung der Finanzmärkte, der Bekämpfung der Klimaerwärmung genauso wie in der Außen- und Sicherheitspolitik und bei der Energiesicherheit. Europa muss Partnerschaften mit anderen Gestaltungsmächten eingehen und gemeinsam mit ihnen auf eine wirkungsvolle „global governance“ hinarbeiten. Zugleich werden wir uns mit ihnen im Wettbewerb der Wirtschaften, Ideen, Bildungssysteme und Gesellschaftsmodelle messen müssen. Hier müssen wir unsere Kräfte sehr viel stärker bündeln und als Europäer gemeinsam handeln.

Innovationskraft in Europa muss erhöht werden

Zweitens muss die Europäische Union eine Region nachhaltigen Wohlstands bleiben. Es geht deshalb nicht nur darum, den gegenwärtig angeschlagenen Volkswirtschaften in Europa wieder auf die Beine zu helfen. Die eigentliche Aufgabe besteht darin, in ganz Europa die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft zu erhöhen. Die Schuldenkrise war ein massiver Weckruf, und die Lektion liegt auf der Hand: Die Währungsunion muss um eine funktionierende, umfassende Wirtschaftsunion ergänzt werden. Dabei wird die Kunst darin bestehen, die notwendige Haushaltskonsolidierung mit intelligenten Impulsen für nachhaltiges Wachstum zu verbinden. Europa muss wettbewerbsfähiger werden – der Binnenmarkt in Bereichen wie Energie und IT muss vertieft und deutlich mehr in Bildung, Forschung und Entwicklung investiert werden. Dafür bieten die laufenden Verhandlungen über eine neue siebenjährige Finanzperiode der EU eine große Chance.

Drittens brauchen wir konkrete Zukunftsprojekte, mit denen sich die Menschen identifizieren und für die sie sich engagieren. Ein solches ist zweifellos eine sichere, nachhaltige Versorgung mit sauberer Energie. Eine starke europäische Energiepolitik wird in immer größerem Maße zur zentralen Grundlage für unseren wirtschaftlichen Erfolg. Solidarität in Europa bedeutet nicht zuletzt, durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit eine stetige Energieversorgung in allen Ländern und Regionen Europas sicherzustellen. Für zentrale Fragen benötigen wir gemeinsame europäische Lösungen: Wie können wir eine funktionsfähige europäische Energieinfrastruktur schaffen? Wie gestalten wir die Energieaußenbeziehungen, mit denen unser Kontinent seine Energieversorgung sichert? Wie können wir Energie effizient nutzen?

Deutschland übt Solidarität mit seinen Nachbarn

Unser Ziel bleibt ein politisch geeintes Europa, das seine Kräfte in zentralen Politikbereichen bündelt, um sich im neuen globalen Gefüge behaupten zu können. Deutsche Interessen und europäisches Gemeinwohl stehen dabei nicht in einem Spannungsverhältnis. Kritiker behaupten gern, dass Deutschland den europäischen Partnern seinen Willen aufzwingen und Europa nach deutschen Vorstellungen formen wolle. Andere meinen, Deutschlands Engagement für Europa schwinde. Beide Behauptungen sind Klischees und beide sind falsch. Wir wissen, dass der Erfolg des europäischen Projekts auf dem Gedanken partnerschaftlicher Führung beruht. Gerade deswegen empfinden wir heute wie gestern Verantwortung für ein starkes Europa: In einem nie da gewesenen Maß übt Deutschland Solidarität mit den europäischen Nachbarn, die durch die Schuldenkrise unter Druck geraten sind. Dafür steht nicht zuletzt Deutschlands Beitrag zum europäischen Rettungsschirm. Zugleich wurde mit der Initiative für den Fiskalvertrag die Grundlagen für eine neue Kultur der Stabilität in Europa geschaffen.

Deutschland hat eine doppelte Verantwortung: Wir wollen Europa in Partnerschaft mitgestalten. Zugleich müssen wir die Menschen in Deutschland und in Europa überzeugen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Es gibt keine gute Zukunft für unser Land ohne die europäische Einigung. Und es gibt für unsere Nachbarn keine gute Zukunft ohne ein europäisch gesinntes Deutschland. Diese Lektion galt nicht nur in Zeiten des Kalten Krieges. Sie gilt auch heute. Sie wird unseren europapolitischen Kurs auch morgen bestimmen.