Die Altpietisten wollen im Leonhardsviertel ein zusätzliches Beratungsangebot für Prostituierte schaffen. Das Vorhaben wird gelobt, die Erfolgsaussichten der Anlaufstelle aber gleich aus mehreren Gründen in Frage gestellt.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Stuttgart - Die Eckkneipe direkt am Eingang zur Leonhardstraße hat eine Tradition, die bis vor den Zweiten Weltkrieg zurückreicht. In den 40er-Jahren war im damaligen Schinderhannes sogar der ehemalige Bundespräsident Theodor Heuss regelmäßig zu Gast – mithin zu einer Zeit, zu der das Leonhardsviertel noch nicht der Prostitution anheim gefallen war. In ihren jungen Jahre gehörte auch die Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle zu den Besuchern, „weil der Schinderhannes die einzige Gaststätte mit einem Billardtisch war“, wie sie sagt: „Anrüchig war damals nichts oder wenn, dann lief das sehr unauffällig.“

 

Kirche statt Gastronomie

Inzwischen heißt die Bar mit der Adresse Leonhardstraße 1 „Zum Schatten“. Im nächsten Jahr sollen die Werbetafeln mit ihrem Namen von der Fassade verschwinden. Die Gastronomie muss weichen, weil die Kirche einzieht. In diesem Haus samt dem Nachbarbau will die Altpietistische Gemeinde – kurz Apis – nächsten Herbst eine Beratungsstelle für Prostituierte eröffnen, vorwiegend für Frauen, die sich aus dem Rotlichtmilieu verabschieden wollen.

Die Apis sind Teil der evangelischen Landeskirche, finanzieren sich allerdings ausschließlich mit freiwilligen Beiträgen ihrer rund 10 000 Mitglieder. Formal sind sie als eingetragener Verein organisiert. „Hoffnungshaus“ haben sie ihr Projekt benannt. Zumindest in kirchlichen Kreisen genießt das Vorhaben hohes Ansehen. Selbst der Landesbischof Frank Otfried July lobt den Versuch, „das Milieu auszutrocknen“. Er schäme sich für Stuttgart, weil die Stadt es zulasse, „dass junge Frauen aus Osteuropa zu uns gekarrt und hier missbraucht werden“, sagte der Geistliche.

Kann das hoch gesteckte Ziel erreicht werden?

Allerdings bezweifeln Experten und Insider, ob die Gemeinde ihre hoch gesteckten Ziele erreichen kann. So scheint es fraglich, ob die Frauen direkt unter den Augen ihrer Zuhälter das Zentrum für Ausstiegswillige betreten werden. Und erst recht umstritten ist, dass es den Altpietisten gelingt, das Milieu auszutrocknen.

Schließlich betreibt nur wenige Schritte von der künftig kirchlichen Adresse entfernt Sabine Constabel die gemeinsame Beratungsstelle von Stadt Stuttgart und Caritas. Etliche andere Organisationen bemühen sich, das Leben weiblicher wie männlicher Prostituierter zumindest erträglicher zu gestalten, bis hin zur alt-katholischen Gemeinde von ihrer kleinen Kirche am Schellenturm aus.

Die Apis „stellt sich der Herausforderung ohne Illusion“, sagt der Pfarrer und Vereinsvorsitzende Steffen Kern, „wir glauben nicht, dass wir die Welt oder nur das Viertel verändern“. Im Hoffnungshaus soll eine Sozialarbeiterin beraten und wohnen, auch Gottesdienste, Konzerte, Ausstellungen und Sprachkurse sind geplant. Auf 100 000 bis 150 000 Euro schätzt Kern die jährlichen Kosten. Nicht zuletzt deswegen „haben wir uns einen Notausgang offengehalten“, sagt der Pfarrer. Zwar sei das Projekt auf Dauer angelegt, für den Fall des Scheiterns ist der Mietvertrag vorerst aber auf zwei Jahre befristet.

Von vielen Seiten Lob für das geplante Hoffnungshaus

„Ich wünsche dem Vorhaben alles Gute“, sagt die Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle, „aber die Altpietisten sollten sich ins Gesamtgefüge einfügen und sich mit allen Akteuren ins Benehmen setzen.“ Laut Kern ist dies bereits geschehen. Bei Gesprächen mit der Stadt, der Leonhardsgemeinde und den Sozialarbeiterinnen im Viertel hätten die Altpietisten nur Lob zu ihrem Hoffnungshaus gehört.

Die Bauten, in denen es eröffnen soll, haben eine pikante Vorgeschichte. Bis vor wenigen Jahren wurden die Wohnungen in den Etagen über der Bar Zum Schatten zur Prostitution genutzt. Gleiches gilt für den ebenso geschichtsträchtigen wie verfallenen Nachbarbau, in dem Frauen sogar auf den Fluren Freier bedienten. Dieses Geschehen fand ein Ende, als publik wurde, dass der Besitzer ein CDU-Kommalpolitiker war, der zudem der evangelischen Landessynode angehörte, dem Kirchenparlament.

Frauen aus der Nachbarschaft versuchen Kunden zu finden

Der gottesfürchtige Christdemokrat gelobte Besserung, verzichtete auf sein kirchliches wie sein kommunalpolitisches Amt und kündigte den Prostituierten. Seitdem ist die Bar Zum Schatten tatsächlich eine Bar, auch wenn Frauen aus den umliegenden Rotlichtbetrieben in ihr versuchen, Kunden zu finden. Kern kennt den Hausbesitzer von dessen kirchlicher Arbeit. Ursprünglich hatte er um die Vermittlung eines Hauses für eine Wohngemeinschaft ehrenamtlicher Helfer gebeten. Dass daraus ein Prostitutionsprojekt wurde, sagt er, „war nicht geplant, sondern eher Zufall“.