Immer mehr Studierende suchen psychologische Beratung. Petra Kucher-Sturm ist Psychologin und arbeitet bei der Beratungsstelle des Studentenwerks Stuttgart. Sie erklärt, warum es immer mehr Ratsuchende gibt.

Stuttgart - Maximilian Müller (Name geändert) liegt nachts wach und macht sich Sorgen. Ständig muss der Student der Luft- und Raumfahrttechnik im dritten Semester darüber nachdenken, dass er zwei Prüfungen wiederholen muss. Er hat Angst, zu versagen. „Ich weiß, ich müsste jetzt eigentlich lernen, aber ich schaffe es einfach nicht, mich hinzusetzen,“, sagt Müller. Also hängt er müde und antriebslos daheim rum, in der Nähe des Schreibtischs, verzichtet auf sein geliebtes Fußballspielen und hat ein schlechtes Gewissen. Müller sei ein klassisches Fallbeispiel, sagt Petra Kucher-Sturm. Die Diplompsychologin arbeitet seit 28 Jahren in der Psychologischen Beratungsstelle des Studentenwerks Stuttgart. Die Zahl der Ratsuchenden nimmt zu: 672 waren es im Jahr 2012, viele kamen mehrfach. Im Vordergrund stünden Lernprobleme. Aber auch Depressionen, Erschöpfung und Schlafstörungen nähmen zu.

 

Kucher-Sturm will es den Studierenden so angenehm wie möglich machen. Das Beratungszimmer im Wohnheim an der Rosenbergstraße im Westen hat sie heimelig gestaltet. Auf dem Tisch brennt eine elektrische Kerze, die Sessel und der Flauschteppich wirken einladend. Die Studierenden, die zu Kucher-Sturm in die Beratung kommen, können das gut brauchen – und oft auch die Packung Kleenex auf dem Tisch. „Wir versuchen, das Angebot so niederschwellig wie möglich zu machen“, sagt die Diplompsychologin. Doch insbesondere männlichen Studierenden falle der Weg dorthin schwer. „Männer kommen manchmal erst, wenn sie zum dritten Mal durchgefallen sind – oder wenn sie geschickt werden“, berichtet Kucher-Sturm.

Irgendwann war auch bei Maximilian Müller der Leidensdruck groß genug. Und er kam in die Beratung. Die Psychologin erkannte rasch, weshalb der sportliche junge Mann, der die Schule mit einem Einserabi verlassen hatte, im Studium nicht zurecht kam. In der Schule hatte sich Maximilian sein Wissen vor allem durch Zuhören im Unterricht und Lernen auf den letzten Drücker angeeignet. Doch im Studium funktionierte dies nicht. Und wie man selbstständig lernt, dafür fehlte Müller schlicht eine Strategie. Damit sei er nicht allein, so Kucher-Sturm: „Wir sind immer wieder erstaunt, wie wenig die Abiturienten das Lernen gelernt haben.“ Als Studenten kämen sie mit dem Stoff dann nicht mehr zurecht und gerieten psychisch unter Druck – ein Teufelskreis.

Auch Beziehungsstress bremst viele beim Studium aus

Doch Maximilian Müller habe sie durch ein paar einfache Maßnahmen helfen können, so Kucher-Sturm. Gemeinsam habe man sich einen Überblick über Termine und Lernstoff verschafft und Zeitfenster fürs Lernen festgelegt, aber auch für Freizeitaktivitäten. Müller hielt durch: Er lernte, trieb wieder Sport, bestand die Prüfungen – und konnte wieder schlafen.

Aber auch ein zu hoher, selbst gemachter Leistungsdruck könne Probleme bereiten: „Eine Studentin hatte die Idee, man müsse jeden Tag acht Stunden konzentriert arbeiten“, berichtet Kucher-Sturm. Innerhalb einer Stunde habe man das Problem gelöst: „Ich habe ihr gesagt, dass da jeder sein eigenes Maß finden muss.“ Allerdings sei die Erkenntnis das Eine, die Umsetzung das Andere. „Bei einem Pensum von nur vier oder fünf Stunden trotzdem ein gutes Gefühl zu haben, das ist ein längerer Prozess.“

Auch Beziehungsstress bremse viele beim Studium aus. Wer in diese Grübelschleife komme, habe keine Kapazität zum Lernen, sagt die Psychologin. Typische Lernfallen seien auch, etwas aufzuschieben oder Pläne zu machen, die nicht einhaltbar sind. Für manche Studenten fungiere sie auch als Kontrollinstanz, etwa bei der Erstellung von Diplomarbeiten, sagt Kucher-Sturm. Gemeinsam schaue man, in welche Lernfallen der Klient getappt sei.

Manche Studenten finden keine Zeit für Beratungen

Eine neue Herausforderung seien die sogenannten Helikoptereltern. Zunehmend wollten Eltern bei der Beratung dabei sein und riefen sogar für ihre volljährigen Kinder an. Heute sei es so, dass man den Eltern die Grenzen zeigen müsse, sagt Kucher-Sturm. Zum Teil legten aber auch Studenten Wert darauf, dass die Eltern dabei sind. Allerdings seien manche Studierende aufgrund ihrer Studienverpflichtungen so eng getaktet, dass für eine Beratung kaum Zeit sei. „Wir haben schon Atteste ausgestellt, damit der Anwesenheitspflicht Genüge getan ist.“

Auch Kontaktschwierigkeiten machten Studenten zu schaffen. Stuttgart sei eine Heimfahrer-Uni und biete nicht so gute soziale Voraussetzungen wie etwa Heidelberg, Freiburg oder Tübingen. Zum Teil liege es auch an den fehlenden Sprachkenntnissen, insbesondere bei den Teilnehmern der englischsprachigen Masterstudiengänge. Es gebe zwar Wünsche nach einer englischsprachigen Beratung, aber die könne sie leider nicht erfüllen, so Kucher-Sturm.

Die Diplompsychologin teilt sich 1,8 Stellen mit ihrem Mann, beide sind für mittlerweile 55 000 Studierende an 13 Hochschulen zuständig. Eine Häufung der Problemfälle in bestimmten Studiengängen oder Hochschulen kann Kucher-Sturm jedoch nicht festmachen.

Etwas verwundert ist die Psychologin darüber, dass kaum noch Studierende Interesse an dem anderthalbtägigen Seminar „Effektiver lernen“ hätten. „Früher haben wir das zwei Mal pro Semester angeboten, und es war immer voll.“ Inzwischen gebe es nur noch einmal eines, Freitagnachmittag und Samstag. Das letzte Seminar habe man absagen müssen: Es gab nur sieben Anmeldungen. Wer hingegen einen Termin für die psychologische Beratung will, müsse in der Regel drei Wochen warten. Dafür wird das 45 bis 50 Minuten lange Beratungsgespräch über den Studentenwerksbeitrag finanziert und kostet nichts extra. „Die Behandlung von Lern- und Leistungsstörungen“, sagt Kucher-Sturm, „würde keine Krankenkasse bezahlen, weil das keine Krankheit ist“.