Das Zahnradbahngespräch mit Prominenten aus dem Sport: auf dem Weg nach oben erzählen sie von ihren Karrierehöhepunkten, auf dem Weg nach unten von Tiefpunkten – heute: der ehemalige VfB-Profi Andreas Hinkel.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Eigentlich nichts Besonderes, wenn einen jemand zur Begrüßung auf dem Marienplatz fragt: „Hallo, wie geht’s?“ Für einen Mann aus dem Fußballgeschäft sind diese ersten Worte dann aber doch eher ungewöhnlich. In dieser egozentrischen Branche herrscht in der Regel kein sehr großes Interesse am Befinden anderer – schon gar nicht an dem eines Journalisten. Bei Andreas Hinkel aber ist dieses „Hallo, wie geht’s“ auch mehr als eine Floskel. Er fragt nach, er will vieles wissen. Zum Beispiel, wie es Zeitungskollegen geht, mit denen er als VfB-Profi früher zu tun hatte. Oder wie die Situation eingeschätzt wird beim Verein, für den er zwischen 1992 und 2006 spielte und bei dem er mittlerweile als Trainer der U-12-Mannschaft arbeitet.

 

„Ich bin eigentlich mehr der Zuhörertyp“, warnt Andreas Hinkel, als er in die Zahnradbahn steigt und das Gespräch über Höhe- und Tiefpunkte in seinem Leben beginnen soll. Doch schnell wird klar, dass der Zuhörertyp auch einiges zu sagen hat. Und zwar so, dass ein Satz wie „Die Familie steht über allem anderen“ nicht abgedroschen wirkt.

Und dann erzählt der 32-Jährige von seinen drei kleinen Kindern und seiner Frau, mit der er schon seit der Jugend zusammen ist. Dass sie auf den Frauenkopf gezogen sind. Dass er mit seinem Leben rundum zufrieden ist, muss Andreas Hinkel gar nicht betonen. Es ist ihm anzusehen. „Es gibt Wichtigeres als Fußball“, sagt Andreas Hinkel. „Ich habe immer gewusst, dass ich als Profi in einer Parallelwelt lebe, dieser Traumjob hat mit dem Alltag von anderen Menschen überhaupt nichts zu tun.“

Andreas Hinkel hält sich an seine zehn Gebote

Deshalb hat er sich, als er mit 21 Jahren erstmals in die Nationalmannschaft berufen wurde, in einem Hotel im schottischen Glasgow zehn Regeln aufgestellt. „Meine zehn Gebote, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren“, sagt Andreas Hinkel. Der Eintrag „Pflege Freundschaften aus alten Zeiten“ ist ihm besonders wichtig. Dass Andreas Hinkel die Umsetzung gut hingekriegt hat, zeigt sich auch ein paar Jahre später bei seiner Hochzeit. Viele alte Remstäler Freunde feierten damals mit, während vom VfB Stuttgart lediglich Christian Tiffert und Thomas Hitzlsperger eingeladen waren.

„Sollen wir auch mal über Fußball reden?“, fragt Andreas Hinkel. Gerne. Und dann spricht er über seine Anfänge als VfB-Profi, die gleich ein Höhepunkt in seiner Spielerkarriere sind. Es beginnt allerdings mit dem drohenden Abstieg. Ralf Rangnick befördert den 18 Jahre alten rechten Verteidiger im Februar 2001 von den Amateuren in die Profimannschaft, die im Tabellenkeller der Bundesliga steht. Drei Spiele später ist Schluss – für Ralf Rangnick.

Andreas Hinkel startet dagegen beim VfB durch – mit teilweise unfreundlicher Unterstützung von Felix Magath. „Er ist ein besonderer Trainer“, sagt Andreas Hinkel über den knallharten Magath, „der einem sehr deutlich macht, was er von dir erwartet. Als gegen Mönchengladbach eine Flanke von meiner Seite einen Gegentreffer einleitet, sagte er danach nur einen Satz zu mir: ‚Wenn du noch einmal eine Flanke zulässt, spielst du wieder bei den Amateuren.“

Das unvergessliche Spiel gegen Manchester United

Andreas Hinkel wurde nicht degradiert, der VfB stieg nicht ab, sondern spielte zwei Jahre später unter dem Label „Junge Wilde“ in der Champions League. Auf diesen Höhepunkt will Andreas Hinkel gleich eingehen. Vorher kommt er aber noch einmal auf den drohenden Abstieg 2001 zu sprechen, auf eine Situation, wie sie der VfB gerade wieder erlebt. „Ich glaube, dass wir damals mehr Druck hatten“, sagt er. „Ein Fehler, und du warst nicht mehr in der Mannschaft. Heute können dir fünf Patzer unterlaufen, und du stehst immer noch in der Startelf.“ Auch der Druck von außen sei damals größer gewesen, meint Andreas Hinkel. Das Wort „Scheißmillionäre“ hätten die VfB-Spieler damals aus allen Richtungen zu hören bekommen. „Die aktuelle Mannschaft erhält von den Fans viel mehr Unterstützung als wir damals“, sagt er.

Die pure Begeisterung erlebte Andreas Hinkel dann in der Champions League. „Der 2:1-Sieg im ersten Heimspiel gegen Manchester United ist ein unvergessliches Erlebnis. Darauf werde ich heute noch sehr oft angesprochen.“ Noch etwas mehr ins Schwärmen gerät Andreas Hinkel aber, als er von einen Erfahrungen im Ausland erzählt. 2006 wechselte er zum FC Sevilla. „Zu einer absoluten Topmannschaft, die damals Real Madrid und dem FC Barcelona die Vorherrschaft in Spanien streitig gemacht hat. Wir haben damals eine Rolle gespielt wie im Moment Atlético Madrid, so etwas kommt in der Primera Division nicht häufig vor.“ Der FC Sevilla war damals gerade erst Uefa-Cup-Sieger geworden und gewann mit Andreas Hinkel gleich den europäischen Supercup – mit einem 3:0-Sieg gegen den FC Barcelona.

Das ganz neue Leben in Sevilla

Andreas Hinkel war plötzlich in einer ganz anderen Liga angekommen – was sich auch daran zeigte, dass in Sevilla auf seiner Position der wohl weltbeste Außenverteidiger Dani Alves spielte. Der Brasilianer, mittlerweile beim FC Barcelona unter Vertrag, wurde vom Trainer Jaunde Ramos, ins Mittelfeld beordert, während Andreas Hinkel häufig in der Verteidigung zum Einsatz kam. „Mich hat die Zeit in Spanien aber nicht nur fußballerisch weiter gebracht“, erzählt Andreas Hinkel, „weil ich mich auf das Leben in Sevilla, auf den Rhythmus dieser Stadt eingelassen habe. Hier habe ich als typischer Deutscher gelernt, dass nicht alles perfekt sein muss. Ich habe gemerkt, dass es fantastisches Essen in Restaurants gibt, deren Fassaden nicht einladend wirken und dass man mit den Einheimischen reden kann, auch wenn man die Sprache noch nicht besonders gut kann. Das hat mir allerdings damals mein russischer Mitspieler Alexander Kerschakow beigebracht. Der hat einfach drauflos geredet, obwohl er schlechter Spanisch konnte als ich.“

„Erzähle ich zu ausführlich?“, will Andreas Hinkel jetzt wissen, nachdem die Zahnradbahn nicht nur den Wendepunkt in Degerloch passiert hat, sondern schon an der Endstation am Marienplatz angekommen ist. Die Tiefpunkte kommen diesmal eben später dran. Auf dem Weg ins Café Kaiserbau, wo das Zackegespräch fortgesetzt wird, entdeckt ein VfB-Fan Mitte 40 Andreas Hinkel und schaltet sich ins Gespräch ein? „Andy, super, was machsch hier?“ Hinkel ist freundlich, aber er wirkt auch nicht unglücklich, als der Mann wieder von ihm ablässt.

„Wo waren wir gerade?“, fragt Andreas Hinkel. Noch in Sevilla. „Dort habe ich leben gelernt, bin lockerer geworden. In Deutschland durftest du nach einer Niederlage bis zum nächsten Spiel nicht Lachen. In Spanien saßen wir bedröppelt in der Kabine, aber schon eine Stunde später im Bus haben alle wieder positiv auf das nächste Spiel geschaut.“

Und mit Begeisterung erzählt Andreas Hinkel weiter – von seinen drei Jahren bei Celtic Glasgow, die sportlich im Vergleich zu Sevilla ein Rückschritt waren, aber ihn trotzdem weiterbrachten: „Den Verein, die auf den ersten Blick nicht schöne Stadt und die Menschen dort habe ich in mein Herz geschlossen. In Schottland ist alles ein bisschen rauer, aber umso herzlicher. Als ich den Verein verließ, haben die Leute zu mir gesagt, dass ich für immer zur Celtic-Familie gehöre. Das bedeutet mir viel.“ Der katholische Arbeiterverein und der geerdete (katholische) Fußballer haben einfach perfekt zusammengepasst.

Traurige Erinnerungen an Antonio Puerta

„Also, jetzt zu den Tiefpunkten“, sagt Andreas Hinkel, der mittlerweile beim zweiten großen Apfelsaftschorle angekommen ist, „gar nicht so leicht, die zu benennen.“ Vielleicht geht es ja mit ein paar Stichworten etwas einfacher? Fangen wir mit dem frühen Karriereende an – mit gerade einmal 30 Jahren. „Das habe ich nicht als besonders bitter erlebt. Mir war klar, dass ich nicht in ein Loch falle, ich kann mit mir etwas anfangen, langweilig wird mir nicht. Es war ein selbstbestimmtes Karriereende. Ich wollte mich nach meiner Verletzung noch einmal zurückkämpfen, und das habe ich geschafft“, sagt Andreas Hinkel. Im Celtic-Training hatte er sich 2011 das Kreuzband gerissen, kehrte nach Deutschland zurück, hielt sich beim VfB fit und feierte beim SC Freiburg sein Bundesliga-Comeback, um nach sieben Spielen und dem Klassenverbleib mit dem Profifußball aufzuhören.

Auch dass er 2006 noch unmittelbar vor Turnierbeginn aus dem deutschen WM-Kader gestrichen wurde, empfindet der 21-malige Nationalspieler nicht als Tiefpunkt. „Ich hatte gar keine Zeit zu hadern, weil unmittelbar danach meine Wechsel nach Sevilla anstand.“ Und in Spanien erlebte er auch etwas, das alle sportlichen Misserfolge sehr unwichtig erscheinen lassen.

Am 25. August 2007 bricht im Spiel gegen den FC Getafe der 21 Jahre alte Antonio Puerta neben Andreas Hinkel in der 30. Minute mit einem Kollaps zusammen. In der Kabine muss der Jungstar des FC Sevilla fünfmal wiederbelebt werden. Antonio Puerta, dessen Frau im siebten Monat schwanger ist, stirbt drei Tage später. Die Todesursache ist eine unentdeckte Herzkrankheit. „Er war ein Supertyp, ganz Sevilla hat um ihn getrauert“, sagt Andreas Hinkel, der schon zuvor auf ganz ähnliche Weise in der Jugend einen Freund verloren hat. „Da kann ich doch jetzt nicht kommen und sagen: Gemeinheit, dass ich nie bei einer WM dabeisein durfte.“

Aber eines findet Andreas Hinkel im Zusammenhang mit der Nationalmannschaft dann doch noch erwähnenswert: „Dass Philipp Lahm wegen mir beim VfB auf linker Verteidiger umschulen musste. Genaugenommen habe ich ihm so zu einer großen Karriere verholfen“, sagt Andreas Hinkel mit einem Grinsen im Gesicht und vermutet am Ende eines dreistündigen Gesprächs, „daraus lässt ich jetzt auch ein Buch machen.“ Und er erklärt auch, warum ihm das eigentlich lieber wäre. „Eine meiner zehn Regeln lautete: Lies keine Zeitungsartikel, die sich um dich drehen.“