Durch die Arbeit bei einem Schweizer Bergbauern taucht der Stammheimer Martin Lambrecht in andere Lebensweisen ein – eine Bereicherung für ihn und die Landwirte, denen er hilft.

Stammheim - Kuhstall und steile Bergwiesen statt Raumklima und Bürostuhl, harte Arbeit statt Urlaub und Faulenzia. Zum vierten Mal bereits hat Martin Lambrecht die Ärmel hochgekrempelt und zwei Wochen für diesen ungewöhnlichen Tausch drangegeben. Im normalen Leben arbeitet der Stammheimer als stellvertretender Personalleiter bei der Stuttgarter Arbeiterwohlfahrt. Im Frühjahr wieder dieser krasse Positionswechsel. Warum eigentlich? „Ich will es, ich kann es. Das passt zu mir.“ Kurz und knackig ist die Antwort, bestimmt und gerade heraus. Wie alles, was Lambrecht sagt. Und irgendwie ist er schon wieder mittendrin in der Welt seines Schweizer Bergbauern, in Ringgenberg, vier Kilometer entfernt von Interlaken.

 

Martin Lambrecht bekennt „eine innere Verwandtschaft“, war auf einem Bauernhof aufgewachsen: „Das hat mich geprägt, auch wenn ich das als junger Mensch als Plackerei empfunden habe.“ Als Vermessungsingenieur war er zudem bei Flurbereinigungsverfahren lange nah dran an der bäuerlichen Welt; er hilft auch immer wieder einem Bauern in Weilimdorf. Einer seiner vier Söhne hat Agrarwissenschaft studiert: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

Für freie Kost und Logis im Heidi-Land

Wer sucht, der findet. Lambrecht hat gesucht, und er wusste genau, was er sucht. Auf der Internetseite der Schweizer Caritas, die die SOS-Rufe der Bergbauern verwaltet, fand er den Hilferuf von Peter Borter und dessen chronisch kranker Frau. „Schon beim ersten Mal hat sich ein blindes Verständnis entwickelt. Das ist wie Familie.“ Zwischendurch hat er auch mal in Maiental, im Heidi-Land, einem Bauern bei der Heuernte geholfen. Ebenfalls für Kost und Logis. Nun war er erneut bei Borters gefordert: „Ich wusste, was da körperlich auf mich zukommt. Das ist kein billiger Urlaub, da kommst du an deine Grenzen. Ich habe mich mit Radfahren und Joggen fit gemacht,“ erzählt der einstige Tischtennis-Spieler und Trainer.

Seine spezielle Aufgabe diesmal: Die Bergwiesen von Laub und Totholz säubern, Weidezäune reparieren. Fünf, sechs Stunden am Tag. An 50-prozentigen Steilhängen, bei Wind und Wetter, bei Temperaturen knapp über Null. Davor – morgens um sechs – Stallarbeit, und abends noch einmal. Dazwischen auch mal Mähmesser schleifen, Schrauben nachziehen oder mit der Fettpresse die Gelenke des Heuwenders schmieren: „Je anstrengender, desto besser. Dann weißt du, was du getan hast.“ Auch mit dieser Einstellung ist der 62-Jährige ganz auf der Höhe seines Bauern, gleicher Jahrgang, der ihm sagt: „Wenn du abends todmüde und mit einem Lächeln ins Bett fällst, dann haben wir alles richtig gemacht. Er ist kaputt, ich bin kaputt. Und wir bedanken uns gegenseitig.“

Der Bauer ist Bauer mit Leib und Seele

Martin Lambrecht fühlt sich also nicht über Gebühr strapaziert, schon gar nicht ausgenutzt. Stattdessen ist das für ihn eine Art mentaler Frischzellenkur: „Ich fühle mich dort wie im Paradies. Das Leben der Menschen ist hart, aber ehrlich. Der Bauer ist Bauer mit Leib und Seele. Er will nicht viel, nur gesund sein und mit den Anderen gut auskommen. Er ist zufrieden mit dem, was er hat. Er hat wenig und teilt trotzdem alles. Sein Hof ist top. Da gibt es keine Nachlässigkeit. Der Stall ist so sauber, dass es nicht mal Fliegen gibt. Peter ist ein Charakterkopf. Wir vertrauen einander, wir sind Freunde geworden. Diese Welt ist nicht künstlich, sondern real. Menschen, die eine Wurzel haben. Daraus beziehen sie ihre Kraft, ihre Energie, auch ihre Freude und ihren Stolz. Die kennen ihren Wert, machen aber kein Aufhebens draus. Denen kannst du nicht in die Satteltasche pinkeln. Du bist fair, sie sind fair. Das ist eine andere Welt.“

Je länger er so redet, und er könnte anscheinend ununterbrochen so reden, um so mehr werden seine Erfahrungen zu einem Spiegel unserer Welt: „Wir messen uns nur am Geld. Und wie wir mit Lebensmitteln umgehen, wegschmeißen und keine Ahnung davon haben, woher die Dinge kommen! Bei dem Gedanken würde ich hier am liebsten alles hinschmeißen und sofort wieder aufbrechen.“

Einmal hat er bei einer komplizierten Zwillingsgeburt geholfen. Das eine Kalb drohte zu sterben, musste ständig massiert werden: „Ich habe das Kälbchen die ganze Nacht gestreichelt. Es hat sich erholt und seine Geburt überlebt. Am Morgen hat der Bauer zu mir gesagt: „Du hast es gerettet.“ Zum Abschied hat der Schweizer dem Schwaben einen ganzen, selbst hergestellten Käselaib geschenkt: „Für ihn ist das ein kleines Vermögen. Er hat mich gefragt: Wann kommst du wieder? Ich habe Rotz und Wasser geheult.“ Klar, wo seine Gedanken jetzt weilen.

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