Bei der Eroberung von Kundus haben Kämpfer der Taliban schwerste Verbrechen verübt, berichtet Amnesty International unter Berufung auf Augenzeugen. Frauen würden systematisch vergewaltigt, Männer und Kinder ermordet.

Kabul - Die radikalislamischen Taliban haben bei ihrem Eroberungszug im nordafghanischen Kundus nach Angaben von Amnesty International schwerste Verbrechen begangen. Mit Morden an Zivilisten, Gruppenvergewaltigungen, Entführungen und dem Einsatz von Todesschwadronen hätten die Taliban in kürzester Zeit eine „Schreckensherrschaft“ in der Stadt errichtet, hieß es in einer am Donnerstag in Kabul veröffentlichten Erklärung der Menschenrechtsorganisation, die sich auf zahlreiche Berichte von Augenzeugen und Bürgerrechtlern beruft.

 

Die Taliban hatten die Stadt, die jahrelang im Verantwortungsbereich der Bundeswehr lag, am Montag erobert und damit ihre Schlagkraft unter Beweis gestellt. Am Donnerstag stieß die afghanische Armee ins Zentrum der Stadt vor und begann mit der Vertreibung der islamistischen Kämpfer. „Die grauenvollen Berichte, die wir erhalten haben, beschreiben eine Schreckensherrschaft während der brutalen Eroberung von Kundus“, sagte der afghanische Amnesty-Vertreter Horia Mosadik. Er forderte die afghanischen Sicherheitsbehörden auf, viel mehr für den Schutz der Zivilisten zu tun.

Mord und Vergewaltigungen

Nach Angaben von Amnesty setzen die Taliban kleine Jungen auf Erkundungstouren durch die Häuser ein, um ihre Opfer, vor allem Frauen, ausfindig zu machen. Familienangehörige von afghanischen Polizisten und Soldaten, darunter auch Kinder, würden gezielt ermordet, weibliche Verwandte vergewaltigt. Die Taliban ließen Häftlinge aus den Gefängnissen der Stadt frei und rüsteten sie laut Amnesty mit Waffen aus, damit diese gegen die afghanischen Regierungstruppen kämpfen. Eine Hebamme wurde wegen ihrer Tätigkeit von einer Gruppe von Männern vergewaltigt und dann zusammen mit einer Kollegin ermordet, berichtete Amnesty weiter unter Berufung auf einen Verwandten des Opfers. „Als die Taliban die Kontrolle über Kundus erlangten, haben sie verkündet, sie würden Recht und Ordnung und die Scharia in der Stadt einführen“, sagte eine Bürgerrechtlerin. „Alles was sie taten, hat dagegen verstoßen. Ich weiß nicht, wer uns aus dieser Situation befreien kann.“

Mit dem Sturm auf Kundus gelang es den Taliban das erste Mal seit ihrer Vertreibung 2001 von der Macht, wieder eine Provinzhauptstadt zu erobern. Bislang wurden nach Angaben der Behörden 49 Tote und 330 Verwundete in die Krankenhäuser der Stadt gebracht. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen teilte mit, sie habe seit Montagmorgen in Kundus 296 Verletzte behandelt, darunter 64 Kinder.