Dabei kann man durchaus fragen: Sehen wir denn nun in Filmen wie dem von Sylvain L’Esperance über Griechenland mehr Wirklichkeit? Ist es nicht unerträglich ausbeuterisch, wenn Gianfranco Rosi in seinem Lampedusa-Film die Kamera auf sterbende Menschen richtet? Wie glaubwürdig kann ein nach dramaturgischen Regeln entwickelter Stoff für sich in Anspruch nehmen, er bilde Realität ab? Schließlich haben die Dokumentarfilmer längst wilde Mischformen entwickelt: Da gibt es reportagenhafte, journalistisch verdichtete Werke neben Langzeitbeobachtungen über Jahre, in denen nur sehr kleine Schnipsel der Realität gesammelt werden. Radikal kommentar- und erklärungslos arbeitet der Filmemacher Andres Veiel in seinem Wettbewerbsbeitrag „Beuys“. Es gibt sogar Mischformen mit authentischen und fiktionalen Szenen. Vielleicht geht es nicht so sehr um Wirklichkeit. Vielleicht gestattet uns diese Darstellungsform einfach ein Glaubwürdigkeitsbad in der gefühlten Authentizität der Individuen, ermöglicht das Spüren von Empathie, wo wir sonst bei Nachrichten nur noch stumpf auf den Bildschirm blicken und wissen, dass sich das irgendwie falsch anfühlt?

 

„Mit dem Wahrheitstopos die Menschen für Geschichten zu interessieren, das kennen wir schon seit den Bänkelsängern“, sagt Thomas Krickel, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm. Und ebendiese Sehnsucht nach Wahrheit scheint das Genre zu bedienen – nach verlässlicher Abbildung in einer Welt, in der jeder sich in seiner Filterblase seine eigene Wahrnehmung zurechtbastelt. Trumps Beraterin Kellyanne Conway sei eigentlich die beste Lobbyistin des Dokumentarfilms, sagt der Filmpreisträger Arne Birkenstock. „Die differenzierte Auseinandersetzung mit Themen ist wichtiger denn je.“

Dokumentarfilmer sind Selbstausbeuter

Dabei brauchen die Macher fast noch mehr Idealismus als früher. Die Zahl der hier produzierten Dokumentarfilme hat sich binnen 15 Jahren vervierfacht, der Marktanteil liegt aber nach wie vor bei zweieinhalb Prozent, wie Martin Hagemann von der Arbeitsgemeinschaft sagt. Nur vier von 139 Filmen im Jahr erreichen mehr als 25 000 Zuschauer. Zwar schauen mehr Menschen im Kino Dokumentarfilme – aber zugleich sind es weniger pro Werk. Das Publikum hat sich ausdifferenziert. Eine Entwicklung, die auch Nachrichtenmedien kennen.

Zu alldem passt der deutsche Förderdschungel nicht mehr. „Wir haben inzwischen keine Ahnung, wer unser Publikum ist“, sagt Hagemann in die Runde der Kollegen, die sich am Rande des glamourösen Festivals in Pulli und Winterstiefeln zur Mitgliederversammlung trifft. Die Förderregularien, nach denen ein Film erst ins Kino, dann als DVD und irgendwann ins Fernsehen kommt, sind für Arne Birkenstock Relikte. „Das hat nichts mehr damit zu tun, wie heute Filme konsumiert werden.“ Bei Plattformanbietern wie Netflix oder anderen liegt eine Chance für Dokumentarfilme – denn hier orientiert man sich auch nach Nische, nicht nur nach Masse. „Was wir brauchen, ist eine Vermarktung, die man gleich zu Beginn des Films mitdenkt“, sagt Birkenstock. Mit Kommerz habe das nichts zu tun – eher mit der Konzentration auf die jeweilige Zielgruppe. In anderen Ländern gibt es dafür einen eigenen Job: Impact Producer arbeiten an dieser Vermarktung.

Die erzählerische Kraft der Kamera

Merzad Allouaches Welt ist von solchen Wirklichkeiten weit entfernt. Fördergelder? Er redet darüber nicht einmal. Der algerische Filmemacher ist mit seinem teildokumentarischen Film „Investigating Paradise“ bei der Berlinale: Eine Journalistin, empört über ein salafistisches Propagandavideo, recherchiert, welche Vorstellung unterschiedliche Menschen vom Paradies haben, das im Islam gilt. Schnell entwickelt der Film die These, dass das Paradies nicht nur Heilsversprechen, sondern eine Art Konsumprodukt im Kampf um die Deutung des Koran ist: In einer Welt, in der Sex und Alkohol verboten sind, wird das Paradies für junge Männer Teil eines Heilsversprechens im Dschihad. Die Journalistin wird von einer Schauspielerin verkörpert – die Interviews mit Intellektuellen, Lehrern, Jugendlichen, Sportlern, Künstlern, Predigern sind authentisch. „In Algerien sind solche Fragen ein Tabu“, sagt Allouache. Die dokumentarische Form war für ihn ein Weg, um das Thema überhaupt zu behandeln, weil die Kontrolle für die Drehgenehmigungen nicht so streng ist. Hier, bei der Berlinale, entfaltet der Film genau die erzählerische Kraft, über die kein Nachrichtenmacher der Welt verfügt: Unerbittlich tastet die Kamera über die Gesichter der jungen Männer im Internetcafé, während diese über die Schönheit der 72 Jungfrauen im Paradies erzählen. Man muss nicht viel wissen und kann trotzdem sehr viel verstehen.

Dabei kann man durchaus fragen: Sehen wir denn nun in Filmen wie dem von Sylvain L’Esperance über Griechenland mehr Wirklichkeit? Ist es nicht unerträglich ausbeuterisch, wenn Gianfranco Rosi in seinem Lampedusa-Film die Kamera auf sterbende Menschen richtet? Wie glaubwürdig kann ein nach dramaturgischen Regeln entwickelter Stoff für sich in Anspruch nehmen, er bilde Realität ab? Schließlich haben die Dokumentarfilmer längst wilde Mischformen entwickelt: Da gibt es reportagenhafte, journalistisch verdichtete Werke neben Langzeitbeobachtungen über Jahre, in denen nur sehr kleine Schnipsel der Realität gesammelt werden. Radikal kommentar- und erklärungslos arbeitet der Filmemacher Andres Veiel in seinem Wettbewerbsbeitrag „Beuys“. Es gibt sogar Mischformen mit authentischen und fiktionalen Szenen. Vielleicht geht es nicht so sehr um Wirklichkeit. Vielleicht gestattet uns diese Darstellungsform einfach ein Glaubwürdigkeitsbad in der gefühlten Authentizität der Individuen, ermöglicht das Spüren von Empathie, wo wir sonst bei Nachrichten nur noch stumpf auf den Bildschirm blicken und wissen, dass sich das irgendwie falsch anfühlt?

„Mit dem Wahrheitstopos die Menschen für Geschichten zu interessieren, das kennen wir schon seit den Bänkelsängern“, sagt Thomas Krickel, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm. Und ebendiese Sehnsucht nach Wahrheit scheint das Genre zu bedienen – nach verlässlicher Abbildung in einer Welt, in der jeder sich in seiner Filterblase seine eigene Wahrnehmung zurechtbastelt. Trumps Beraterin Kellyanne Conway sei eigentlich die beste Lobbyistin des Dokumentarfilms, sagt der Filmpreisträger Arne Birkenstock. „Die differenzierte Auseinandersetzung mit Themen ist wichtiger denn je.“

Dokumentarfilmer sind Selbstausbeuter

Dabei brauchen die Macher fast noch mehr Idealismus als früher. Die Zahl der hier produzierten Dokumentarfilme hat sich binnen 15 Jahren vervierfacht, der Marktanteil liegt aber nach wie vor bei zweieinhalb Prozent, wie Martin Hagemann von der Arbeitsgemeinschaft sagt. Nur vier von 139 Filmen im Jahr erreichen mehr als 25 000 Zuschauer. Zwar schauen mehr Menschen im Kino Dokumentarfilme – aber zugleich sind es weniger pro Werk. Das Publikum hat sich ausdifferenziert. Eine Entwicklung, die auch Nachrichtenmedien kennen.

Zu alldem passt der deutsche Förderdschungel nicht mehr. „Wir haben inzwischen keine Ahnung, wer unser Publikum ist“, sagt Hagemann in die Runde der Kollegen, die sich am Rande des glamourösen Festivals in Pulli und Winterstiefeln zur Mitgliederversammlung trifft. Die Förderregularien, nach denen ein Film erst ins Kino, dann als DVD und irgendwann ins Fernsehen kommt, sind für Arne Birkenstock Relikte. „Das hat nichts mehr damit zu tun, wie heute Filme konsumiert werden.“ Bei Plattformanbietern wie Netflix oder anderen liegt eine Chance für Dokumentarfilme – denn hier orientiert man sich auch nach Nische, nicht nur nach Masse. „Was wir brauchen, ist eine Vermarktung, die man gleich zu Beginn des Films mitdenkt“, sagt Birkenstock. Mit Kommerz habe das nichts zu tun – eher mit der Konzentration auf die jeweilige Zielgruppe. In anderen Ländern gibt es dafür einen eigenen Job: Impact Producer arbeiten an dieser Vermarktung.

Die erzählerische Kraft der Kamera

Merzad Allouaches Welt ist von solchen Wirklichkeiten weit entfernt. Fördergelder? Er redet darüber nicht einmal. Der algerische Filmemacher ist mit seinem teildokumentarischen Film „Investigating Paradise“ bei der Berlinale: Eine Journalistin, empört über ein salafistisches Propagandavideo, recherchiert, welche Vorstellung unterschiedliche Menschen vom Paradies haben, das im Islam gilt. Schnell entwickelt der Film die These, dass das Paradies nicht nur Heilsversprechen, sondern eine Art Konsumprodukt im Kampf um die Deutung des Koran ist: In einer Welt, in der Sex und Alkohol verboten sind, wird das Paradies für junge Männer Teil eines Heilsversprechens im Dschihad. Die Journalistin wird von einer Schauspielerin verkörpert – die Interviews mit Intellektuellen, Lehrern, Jugendlichen, Sportlern, Künstlern, Predigern sind authentisch. „In Algerien sind solche Fragen ein Tabu“, sagt Allouache. Die dokumentarische Form war für ihn ein Weg, um das Thema überhaupt zu behandeln, weil die Kontrolle für die Drehgenehmigungen nicht so streng ist. Hier, bei der Berlinale, entfaltet der Film genau die erzählerische Kraft, über die kein Nachrichtenmacher der Welt verfügt: Unerbittlich tastet die Kamera über die Gesichter der jungen Männer im Internetcafé, während diese über die Schönheit der 72 Jungfrauen im Paradies erzählen. Man muss nicht viel wissen und kann trotzdem sehr viel verstehen.