Die Berlinale hat einen ersten Bären-Kandidaten. Gianfranco Rosi dokumentarische Erzählung „Fuocoammare“ schildert die Flüchtlingslage auf Lampedusa. Auch eine Abschlussarbeit der Filmakademie Ludwigsburg kann mithalten.

Berlin - Wenn eine Schwangere ihr Kind in der 24. Woche entbinden würde, käme es höchstwahrscheinlich lebend zur Welt. Entscheidet sich eine Frau für einen Spätabbruch, dann bekommt der Embryo im Mutterleib eine tödliche Spritze ins Herz. Danach muss die Mutter das tote Kind gebären. In Deutschland kann eine Frau sich nach der zwölften Woche gegen das Kind entscheiden, wenn ihre eigene körperliche oder seelische Gesundheit stark gefährdet ist. Die Zahl der Spätabbrüche ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Neunzig Prozent der Frauen, bei deren Kind das Down-Syndrom festgestellt wurde, entscheiden sich für einen Abbruch nach der 12. Woche. Warum? Egal, wie die Antwort lautet: das ganze Leben wird danach nicht mehr sein wie vorher. Gesprochen wird darüber wenig.

 

In „24 Wochen“, dem einzigen deutschen Film im Wettbewerb der Berlinale, beschäftigt sich Anne Zohra Berrached (33) mit jener extremen Entscheidungssituation, die der medizinische Fortschritt provoziert. Die Absolventin der Filmakademie Baden-Württemberg ist die erste Studentin, die es je mit ihrem Abschlussfilm in den Wettbewerb geschafft hat. Die Kabarettistin Astrid (Julia Jentsch) und ihr Manager Markus (brillant: Bjarne Mädel) sind ein harmonisches Paar, sie haben schon ein Kind, die Karriere läuft, sie freuen sich auf das zweite. Als die Diagnose Down-Syndrom im vierten Monat kommt, dominiert erst die Zuversicht, aber nach und nach gerät die Sicherheit der Mutter ins Wanken.

Im Versuch, die inneren Konflikte des Paares und der Mutter möglichst genau nachzuzeichnen, konfrontiert Berrached im Film ihre Schauspieler mit echten Hebammen und Ärzten und mit Informationen, die sie erst vor der Kamera erhalten. So entstehen teilweise dichte Bilder von Schmerz und Konflikt. Eine filmische Entsprechung findet dieses Gefühl in Sequenzen von HD-Bildern aus dem Mutterleib, die die ganze Verletzlichkeit dieses kleinen Lebens zeigen. Die wichtige Frage, wie es danach weitergeht, lässt der Film offen. „Ich weiß nicht, ob es richtig oder falsch war“, sagt Astrid. „Vielleicht ein bisschen von beidem.“

Tage und Nächte im Flüchtlingslager

Als der italienische Filmemacher Gianfranco Rosi vor drei Jahren nach Lampedusa kam, da wollte er einen Zehnminüter über die Flüchtlingskatastrophe drehen, mit denen die ganze Welt den Namen der Insel verbindet. Rosi blieb länger. Tage und Nächte verbrachte er in der Welt eines Flüchtlingslagers. Einen Monat war er an Bord der Cigala Fulgosi, deren Besatzung versucht, Boote zu erreichen, bevor Menschen sterben. Auf Lampedusa traf er Menschen, deren Zuhause die Insel ist. Den kleinen Samuele, Tante Maria, und Pietro Bartolo, den Inselarzt. Rosis Film „Fuocoammare“ hat das Publikum der Berlinale sehr berührt und ist ein früher Bärenkandidat – und wenn man sich bei der erwartbaren Kontroverse darum etwas wünschen könnte, dann vielleicht, dass er zu guter Sendezeit im Fernsehen liefe.

Man kann einiges fragwürdig finden an der Erzählung, die als Dokumentarfilm rangiert. Zuallererst: darf man sterbende Menschen zeigen? Nimmt die Kamera diesen Menschen, die da dehydriert, halb tot liegen und von Helfern in Schutzanzügen versorgt werden, nicht das Letzte, was sie noch haben – ihre Würde? Oder ist es umgekehrt so, dass diese Würde wenn überhaupt, dann nur gerettet werden kann, wenn man der Gesellschaft nicht erlaubt, wegzusehen? Aber man kann auch fragen: wie weit sind wir eigentlich vom Elend entfernt, wenn wir uns lieber mit der Frage beschäftigen, ob und wie man diese Bilder zeigen soll, als mit den Bildern selbst?

Samuele ballert gern mit imaginären Pumpguns

Denn allein bei den Worten von Pietro Bartolo könnte einem das Herz brechen, diesem Helden im Arztkittel, der vor seinem Computer sitzt und niemanden anschaut, wenn er erzählt. „Es brennt mir ein Loch in den Bauch, eine furchtbare Leere“, sagt Bartolo. 15 000 tote Kinder, tote Frauen, tote Männer. Jedoch hat Rosis Film einen Haken: Man kommt ins Zweifeln über den dokumentarischen Willen. Wenn er zum Beispiel die Flüchtenden zu Menschenlandschaften macht, zu einer ästhetisierten Karawane, eingehüllt in golden leuchtenden Isolationsdecken? Bartolo ist der einzige im Film, bei dem sich die Welt des Horrors mit der des Alltags verschränkt. Es sind am stärksten die Alltagsbilder, die einem ein mulmiges Gefühl von Inszeniertheit vermitteln. Wie Staffage für eine Botschaft wirken die Menschen von Lampedusa – als Modell einer Gesellschaft, die sich nicht berühren lassen möchte: Samuele ballert gern mit imaginären Pumpguns. Aber Rosi zeigt ihn als Schützen einer nicht enden wollenden Kaskade von Angriffen. Und als der Zwölfjährige dann zum Inselarzt kommt, weil ihm die Luft wegbleibt, spricht dieser über Angsterkrankungen.

Vertreibung aus dem Paradies

Im Wettbewerbsprogramm gab es am ersten Wochenende harte Schnitte, und so hat es das Drama „L’Avenir“ (Die Zukunft) der französischen Filmemacherin Mia Hansen-Løve nach Rosis Realo-Schocker nicht leicht. „Ich dachte, Du liebst mich für immer und ewig“, sagt Nathalie, als ihr Mann sie nach 25 Jahren für eine andere verlässt. Es ist der Moment, in dem die Philosophie-Lehrerin (Isabelle Huppert) herauskatapultiert wird aus ihrer Welt, die so heil und sicher schien, dass sie es sich zum Beruf machen konnte, alle Gewissheiten in Frage zu stellen. Hansen-Løve porträtiert eine Frau, die ihre persönliche Vertreibung aus dem Paradies erlebt, während das Leben einfach so weitergeht. Nathalie verliert den Mann, die Mutter kommt ins Heim, ihr Verlag stellt ihre Essay-Reihe ein – zu gestrig. Immerzu ist Huppert von da an unterwegs, die Kamera folgt ihr, wie sie mit soldatisch beherrschter Miene im Stechschritt, versucht, ihre Normalität gegen die Umstände am Laufen zu halten. Zur Ruhe zu kommen würde bedeuten, den Schmerz des Verlustes zu fühlen. „Oh, ein Paradies“, sagt Nathalie, als sie ihren Doktoranden auf dessen Aussteigerhof besucht und es keine zwei Nächte aushält. Es ist nicht ihres.

Mit poetischer Sprache und ergreifenden Schwarz-Weiß-Bildern taucht der Portugiese Ivo M. Ferreira seine Zuschauer in „Cartas da guerra“ in ein Sehnsuchtsvollbad. Die Basis bilden die authentischen Liebesbriefe, die der junge Militärarzt António Lobo Antunes aus dem Kolonialkrieg in Angola 1971 an seine junge Frau in Lissabon schickt. Worte ungeheurer Zärtlichkeit und Sehnsucht begleiten Bilder, die mal grandiose Landschaften zeigen, mal das Alltagsleben aus dem Blickwinkel der Kolonialherren. Nach und nach fluten immer schlimmere Szenen von Krieg und der Sinnlosigkeit des Konflikts die Leinwand. Und das Imaginieren, Sehnen und Schwelgen wird zu einem überlebenswichtigen Gegengift in einer grausamen Welt.