In vielen Berlinale-Filmen traten große Zeitfragen zurück hinter persönlichen Geschichten und Schicksalen. „Die Welt mit Poesie retten“ nennt das Festival-Chef Dieter Kosslick.

Berlin - Das Kleid wollte ich schon zur Eröffnung anziehen, aber es war in Quarantäne – Vogelgrippe“, sagt fröhlich Anke Engelke in ihrem Gewand aus schwarzem Flitter, vorne geschlitzt, mit kleiner Schleppe. Sie ist ein Glücksfall als Berlinale-Moderatorin, auch am Samstag führt sie wieder souverän durch die Bären-Verleihung, deren Unterhaltungswert man sich ohne Engelkes anarchischen Witz nicht vorstellen mag. Die auch beim Deutschen Filmpreis gerne gebrauchte Ausrede, man sei „sprachlos“, denn man habe „damit gar nicht gerechnet“, ist absurd: Von Nominierten im Showgeschäft darf man erwarten, dass sie sich vorbereiten.

 

„Man muss ein Risiko eingehen, wenn man wirklich leben will“, sagt die ungarische Regisseurin Ildykó Enyedi, die für ihre einfühlsame Schlachthaus-Romanze „Körper und Seele“ den Goldenen Bären bekommt. Sie lobt die „großen Herzen“ beim Festival, und es klingt ehrlich, obwohl der Pointen-freudige Festival-Chef Dieter Kosslick ihr vorher für alle hörbar zugeraunt hat: „Sag einfach vielen Dank und dass Du gut findest, was wir hier machen!“ Wie Enyedi eine Autistin und einen Lahmen zusammenbringt, die sich zuerst in einem wiederkehrenden Traum begegnen, ist eine Demonstration der Erzählkunst des europäischen Independent-Kinos.

Das freilich beherrscht kaum einer besser als der Finne Aki Kaurismäki, dem die Jury den Silbernen Bären für die beste Regie zugesteht. Seine Flüchtlings-Tragikomödie „Die andere Seite der Hoffnung“ trägt in diesem Jahrgang die markanteste künstlerische Handschrift, sie formt das Unglück eines in Helsinki gestrandeten Syrers mit lakonischem Humor zur universellen Parabel. Der finnische Meister hat wohl vorgefeiert, er schafft es bei der Gala im Berlinale-Palast gerade so, aufzustehen – macht aber keine Anstalten, zur Bühne zu gehen. Also wird ihm sein Bär zugetragen, in den er dann hineinspricht wie in ein Mikrofon. „Wenn der Mann nicht zum Bären kommt, kommt der Bär eben zum Mann“, kommentiert Engelke lächelnd.

Eine Aussteigerin übt Selbstjustiz

Wie niemand sonst rührt Kaurismäki an große Zeitfragen, viele andere Beiträge sind eher menschliche Annäherungen im Kleinen. „Ich möchte allen Filmemachern danken, dass sie versucht haben, in diesen zehn Tagen die Welt mit Poesie zu retten“, hat Dieter Kosslick zu Beginn des Abends gesagt, und das klang weit weniger dramatisch als vor Festival-Beginn sein Orakeln über die düstere Gegenwart.

Das Private sei politisch, postulierten nach 1968 Frauenrechtlerinnen, Bürgerrechtler und Basisdemokraten. Die Berlinale bezeichnet sich gerne als politisches Filmfestival. 2016 gewann der Italiener Gianfranco Rosi mit „Seefeuer“, einem Dokumentarfilm über den Kontrast zwischen dem Leben der Fischer auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa und der Realität beständig einströmender Flüchtlinge und angeschwemmter Leichen.

Der Jahrgang 2017 fokussiert eher auf persönliche Geschichten und Schicksale. Im polnischen Beitrag „Spur“ (Alfred-Bauer-Preis) lehnt sich eine menschen- und tierfreundliche Aussteigerin gegen selbstherrliche Patriarchen auf – und weil ihr der Jäger, der Bürgermeister und der Priester nicht zuhören wollen, sind sie bald tot. Womöglich haben die brutalen Barbaren und Frauenverachter das sogar verdient – trotzdem stellt sich, wer Selbstjustiz übt, über das Recht und auf eine Stufe mit Hassvereinigungen wie dem Ku-Klux-Klan. „Neue Perspektiven“ sollen Bauer-Preisträger eröffnen – mit „Spur“ sendet die Jury ein seltsames Widerstands-Signal.

Es hätte Alternativen gegeben

Ganz ins afrikanische Alltags-Elend taucht „Felicité“ (Großer Preis der Jury) ein, eine Sängerin in Kinshasa muss verzweifelt Geld auftreiben und lässt sich trotz allem nicht unterkriegen. „Eine fantastische Frau“ aus Chile schildert den Kampf einer Transgender-Frau gegen gesellschaftliche Ausgrenzung (der Darstellerinnen-Bär für Daniela Vega wäre hier sinnvoller gewesen als der Drehbuch-Bär). „Ana, mon Amour“ (Silberner Bär für den besten Schnitt) aus Rumänien ist das sehr persönliche Psychogramm eines Paars mit Problemen, im koreanischen Beitrag „Nachts allein am Strand“ (Silberner Bär für die beste Darstellerin Kim Minhee) ringt eine junge Frau mit ihrem Verhältnis zur Liebe und zu alkoholischen Getränken. In „Helle Nächte“ (Silberner Bär für den besten Darsteller Georg Friedrich) schweigen ein Vater und sein entfremdeter 14-Jähriger sich durch den Versuch einer Wiederannäherung im kargen Norwegen.

Man muss den größeren Zusammenhang mit der Lupe suchen in solchen Mikrokosmen. Alternativen hat es gegeben, was den Schnitt oder auch neue Perspektiven angeht zum Beispiel Andres Veiels Dokumentarfilm „Beuys“. Vielleicht waren den Juroren die inhaltlich dichten, auch 40 Jahre später noch aktuellen Kommentare des Künstlers zu den Verhältnissen zu gewichtig. Sally Potters brillant geschriebenes und besetztes Kammerspiel „The Party“ wiederum mag zu leicht gewirkt haben, weil sie politische und persönliche Intrigen komödiantisch fasst – genau wie Josef Haders seine boshafte Mittelschichtsatire in „Wilde Maus“.

Georg Friedrich klebt dem Bären seinen Kaugummi auf die Tatze

Darin ist der österreichische Charakter Georg Friedrich stark als sich selbst überschätzender Kleingauner. Den Bären hat er also verdient, dem er auf offener Bühne seinen Kaugummi auf die Tatze klebt. („Ich wollte den Preis dadurch nicht schmälern, ich wollte mich eher mit ihm anfreunden“, wird er dazu später sagen.) Er rezitiert das Gedicht „In the Desert“ des US-Lyrikers Stephen Crane, in dem eine nackte Kreatur ihr eigenes, „bitteres Herz“ isst und damit ganz zufrieden ist. Die Danksagung gestaltet er dadaistisch: „Ich möchte vielen Leuten danken dafür, dass ich da bin.“ Punkt, keine Namen. So kann das aussehen, wenn ein Nominierter nicht sprachlos ist.

Anke Engelke richtet zum Schluss der Gala den Blick in die Zukunft – nach dem Spiel ist auch hier vor dem Spiel. „Die nächste Berlinale findet vom 15. bis zum 25. Februar 2018 statt“, sagt sie. „Dieter, hast Du da Zeit?“ „Ich weiß nicht, ich muss erst in meinen Kalender schauen“, antwortet Kosslick.