Der Wettbewerb der 66. Internationalen Filmfestspiele spannt zu Beginn einen sehr weiten Bogen: Erzählt wird von einer Metamorphose aus Liebe, vom Pech, alles zu haben, und den Gefahren einer leicht erregbaren Gesellschaft.

Berlin - Es soll auf dieser Berlinale um das Recht auf Glück gehen, diese nirgends so kompromisslos wie in der US-Verfassung formulierte Idee, wonach dem Wunsch nach einem ureigenen, individuellen Lebenskonzept der gleiche Rang zukommt wie dem Recht aufs bloße Überleben. Das Thema ist weit genug gefasst, um darunter von der weltweiten Fluchtbewegung über gefährdete Bürgerrechte bis hin zur höchst privaten Frage nach der Planbarkeit von Lebensglück alles zu verhandeln. Und schon nach dem ersten Wettbewerbstag scheint es, als hätten die Kuratoren durchaus vor, den Expander noch ein bisschen stärker zu dehnen.

 

In „Hedi“, dem ersten tunesischen Wettbewerbsfilm seit zwanzig Jahren, erzählt der Regisseur Mohamed Ben Attia die Geschichte einer Selbstfindung auf mehreren Ebenen. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der 25 Jahre alte Autovertreter Hedi, der unter der Kuratel seiner dominanten Mutter in deren Haus in Kairouan lebt. So wie sie ihm als Kind durch die Schule geholfen hat, verwaltet sie jetzt sein Gehalt, packt seine Koffer, sucht seinen Job aus – und seine Frau. Die arrangierte Ehe mit Khedija aus dem Ort steht an, alles läuft streng nach Tradition und nach Plan der Mutter. Der ältere Bruder Ahmed, der aus diesen Fängen längst nach Frankreich entflohen ist, unterstützt die Mutter nach Kräften, entlastet der brave Hedi ihn doch mit seiner Fügsamkeit von allen Pflichten.

Allein, der Plan geht nicht auf. Hedi, zu Beginn der Geschichte ein scheuer Leisesprecher mit gebeugten Schultern und beginnender Glatze, der sich mit seiner Verlobten zu platonischen Minutenstelldicheins im Auto versteigt, muss auf Dienstreise ans Meer. Er landet in einem Touristenhotel und trifft dort auf die schöne, energiegeladene Rim. Rim, freiheitsliebend, sinnlich, unabhängig, arbeitet als Animateurin mal hier, mal in Italien und sucht jetzt einen Job in Frankreich, denn die Touristen bleiben Tunesien fern. Die beiden werden ein Paar, es scheint, als spüre Hedi zum ersten Mal, was Glück sein kann – und natürlich will er mehr davon.

Aus einem Gefangenen wird ein Mann

In den Figuren der drei jungen Menschen zeichnet Atti fein nach, wie sehr der Weg zum eigenen Glück nicht nur von äußeren Umständen usurpiert wird, sondern auch von der inneren Prägung und der Fähigkeit, sich autark zu definieren: Khedija zeigt das Vollbild einer funktionierenden Tochter, das für sie auch dann nicht in Frage steht, als Hedi revoltiert und die Hochzeit erst einmal platzt. Anders als Hedi hatte sie aber auch noch nie die Chance, mit Menschen wie Rim in Kontakt zu kommen – wie ihr Leben und ihre Vorstellung von Glück sich dadurch vielleicht auch verändert hätte, bleibt eine offene Frage.

Rim, die Starke, kann benennen, was sie sich wünscht, nimmt es sich und verbucht die dabei auftretenden Entwurzelungsschmerzen unter Risiken und Nebenwirkungen. In Hedi, der im Film von Minute zu Minute schöner wird, lässt sich die Verwandlung von einem Gefangenen der Gefügigkeit hin zu einem Mann beobachten, der beginnt, eigene Bedürfnisse und Wünsche zuzulassen und mit jener Rücksichtslosigkeit zu formulieren, die es zur Glückssuche manchmal braucht. Ganz nah untersucht die Kamera dabei immer wieder die Gesichter dieser drei jungen Menschen, scannt sie nach ihren Sehnsüchten und Hoffnungen ab, ihren Ängsten, ihrer Lebenslust. In einer Szene sprechen Hedi und Rim über die Tage des Arabischen Frühlings, über die Demos, und Hedi berichtete von jenem Gefühl, wie die Menschen sich auf einmal einander geöffnet hätten.

Emanzipation

Es ist der Moment, in dem am deutlichsten wird, dass „Hedi“ nicht nur eine private Geschichte erzählt, sondern den Mut, die Angst, die Orientierungslosigkeit der sich selbst suchenden tunesischen Gesellschaft beschreibt. „Bisher wussten wir gar nicht, wer wir sind“, sagte Attia am Freitag bei der Pressekonferenz in Berlin. „Das ändert sich nun nach dem Arabischen Frühling. Wir emanzipieren uns, wie Hedi.“

Alles haben – und nichts

Man kann auch jede Freiheit der Welt, einen Berg Kohle, eine Handvoll eigener Firmen, ein Landhaus mit Pool und Gattin, Manschettenknöpfe von Hermès und eine gazellenhafte Geliebte haben und trotzdem in die ganz persönliche Hölle geraten – oder sogar noch einen Stock tiefer. Wie Tantalus. So geht es dem erfolgreichen, körperlich gestählten und furchtbar arroganten kanadischen Aufsteiger-Businessmann Boris Malinovsky, der im Leben alles erreicht hat. Nur ist alles nichts wert, denn seine Frau, die schöne und kluge Béatrice, Ministerin in der kanadischen Regierung, leidet unter schwerster Depression und Melancholie, sitzt stumm und blockiert im Landhaus, und nichts kann ihr helfen.

Denis Coté erzählt die Geschichte von „Boris ohne Béatrice“ als die eines Mannes, der das Leben so genießt, wie er es für richtig hält, eine Menge kleiner Sünden, aber keine große begeht und sich mitunter so großartig fühlt, dass er die eigene Sterblichkeit vergisst. Béatrice bleibt dabei wortlos, schmal, fern – ein durchsichtiges Lichtwesen, das eher als allegorische Figur taugt als zum Beziehungsgegenüber.

Pathetische Bilder

Coté schafft pathetische, teils wie Gemälde anmutende Bilder, die dem Zuschauer befehlen, nun bitte aufzumerken. So erscheint die höhere Instanz, die Boris dazu zwingt, alles, was er für erreicht und erstrebenswert hält, zu hinterfragen, als merkwürdiger Unbekannter im Wildseidenkaftan, der selbstverständlich gleich seinen eigenen Flutlichtscheinwerfer mit sich führt. Dieser kleine, fabelwesenhafte Herr mit der seltsamen Sprache (Denis Lavant) ist es, der Boris die Schuld an der Krankheit seiner Frau gibt und in aufreizender Langsamkeit die Geschichte von Tantalus erzählt, dessen Hybris und Herzlosigkeit die Götter so furchtbar bestraften.

Nach dieser Begegnung kann Boris zwar noch mit allem, was nun beginnt, scheitern, aber eines kann er nicht mehr: in der ihm eigenen Selbstgewissheit weitermachen. Je mehr es ihm gelingt, mit sich selbst, seinen Gefühlen, seiner Geschichte und seinen Unzulänglichkeiten in Kontakt zu treten, desto mehr Hoffnung ist für Béatrice – und für ihn auf ein Leben als Sterblicher.

Im Visier von FBI, Army und NSA

Was es so zwischen Universum und Unterwelt vielleicht alles geben mag, das behandelt auch der US-amerikanische Filmemacher Jeff Nichols in seinem Drama „Midnight Special“. Im Mittelpunkt des Science-Fiction-Road-Movies steht Alton, ein Achtjähriger mit übernatürlichen Fähigkeiten – die für unterschiedliche, an Macht interessierte Gruppierungen Unterschiedliches bedeuten: Eine fundamentalistische Sekte sieht in ihm den Erlöser. Da Alton aber mit seinen Kräften hochgeheime Daten der US-Behörden aus dem Äther fischt, gerät er auch ins Visier von FBI, Army und NSA. Deren Befürchtung: der Junge könnte die neueste unter den Waffen der noch nicht näher bekannten Gegner sein.

Hysterische Gesellschaft

Kern der Erzählung ist eine Familiengeschichte, denn Altons Eltern (Kirsten Dunst, Michael Shannon), versuchen einfach nur, ihr Kind zu schützen und herauszufinden, was es mit seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten auf sich hat. Nichols bettet diese Erzählung ein in ebenso bitterböse wie glaubwürdige Bilder einer gewaltbereiten, extrem leicht hysterisierbaren Gesellschaft voller paranoider Verschwörungstheoretiker und schafartig-gehorsamer Mitläufer, die egal unter welcher Flagge zum absoluten Gehorsam ohne Rücksicht auf Verluste bereit sind.

Die Flucht eskaliert zur nationalen Menschenjagd mit allen Mitteln, es kommt zu einem atemberaubenden Showdown, an dessen Ende ein paar waschechte Aliens auftauchen. Zumindest wenn man an Aliens glaubt.