Welcher der 18 Filme aus dem Wettbewerb der 66. Internationalen Filmfestspiele bekommt den Goldenen Bären? Am Samstag entscheidet dies die hochkarätige Jury.

Berlin - Irgendwann im zweiten Drittel des achtstündigen philippinischen Revolutionsdramas „Lullaby to the Sorrowful Mystery“ begeistert ein zwielichtiger Vertrauter des spanischen Generalhauptmanns dessen Festgesellschaft mit einer Überraschung: Ein Cinematograf! Erstmals auf den Inseln! Gezeigt wird einer der ersten Filme der Brüder Lumière, und im Zuschauerraum sagt jemand: Diese neue Erfindung mache es möglich, alternative Welten zu erschaffen.

 

So gesehen ist die Berlinale mehr als eine Weltreise. Sie führt ihre Zuschauer in acht Tagen nicht nur rund um den Erdball, sondern in ein Universum der Perspektiven, Darstellungsformen, Gedankengebäude. Manche saugen einen ein, andere bleiben distanziert, fremd, unverständlich, wieder andere haben dieses eine Bild, diese eine Figur, die einem nahe kommen. Manche Filme entfalten ihre Wirkung nach einer gewissen Inkubationszeit, plötzlich, Stunden später, ist man mit einem Gefühl, einem Gedanken infiziert. Manchmal wird die Sache chronisch. Wer gern ins Kino geht, hat höchstwahrscheinlich schon einmal die Erfahrung gemacht, dass ein Film einen verändern kann.

Das als politisch geltende Festival will seinen Ruf wahren

Ist „Lullaby“ so einer? Sehr sehr lang applaudierten die Zuschauer dem philippinischen Epos am Abend nach 485 Minuten – sicher war ein Teil davon Beifall für das Ausmaß dieser filmischen Unternehmung und ein Teil dafür, als Zuschauer bis hierhin durchgehalten zu haben. Wonach wird die Jury des Wettbewerbs am Ende entscheiden, welcher Film hat wen infiziert – und ist das überhaupt ein Kriterium? Über Prognosen für den Goldenen und die Silbernen Bären kann man nur so viel sagen: sie sind nichts wert.

Auffällig hoch war in diesem Wettbewerbsjahrgang jedenfalls die Zahl der Filme, die einen nachhaltig in Unruhe versetzen können – und das lag sicher in der Absicht Dieter Kosslicks, der im Vorfeld mehrfach klar gemacht hatte: in diesen schwierigen Zeiten will das als politisch geltende Festival genau diesem Ruf gerecht werden. Kein Tag also verging – und da unterscheidet sich die Berlinale ausnahmsweise nicht vom wirklichen Leben – ohne das Flüchtlingsthema. Es spielte in etlichen Filmen eine Rolle, erstmals rief die Berlinale zu Spenden auf, internationale Stars sprachen das Thema an, und George Clooney saß am Ende sogar bei Angela Merkel im Kanzleramt.

„Zero Days“ ist ein Kriegsfilm der anderen Art

„Fuocoammare“ heißt der Film des italienischen Regisseurs Gianfranco Rosi, der sich im Wettbewerb ganz direkt mit der Flüchtlingskrise beschäftigt – und der als Bären-Favorit hoch gehandelt wird. Sehr ruhig, mit wenigen Worten und ohne politischen Kommentar legt Rosi zwei Welten nebeneinander, die er bei seinen langen Recherchen auf Lampedusa erlebt hat: Die des Alltags der Inselbewohner, hauptsächlich erzählt entlang der Erlebnisse eines Zwölfjährigen. Und daneben die Welt der Katastrophen, die sich auf dem Meer vor Lampedusa ereignen – wo in den vergangenen Jahren mehr als 15 000 Menschen einfach nur deshalb gestorben sind, weil sie sich schutzlos auf den Weg in ein besseres Leben machten. Es sind radikale, furchtbare Bilder aus der Wirklichkeit, die wir nur glauben, ohnehin zu kennen, Bilder von Sterbenden, Toten, Verzweifelten.

Auch der zweite dokumentarische Beitrag im Wettbewerb gilt – obwohl in der filmischen Darstellung unaufregend – als aussichtsreich: Alex Gibney schuf mit „Zero Days“ dabei zugleich einen Kriegsfilm der anderen Art. In einer Detailgenauigkeit, die einem nach und nach das reine Grauen einhaucht, rekonstruiert Gibney die Geschichte des Computerwurms „Stuxnet“ als die eines staatlichen Angriffs. Er zeichnet dabei die Möglichkeiten und großen Gefahren der Kriegsführung per Software auf – für die Cyberwaffen besteht, anders als für alle anderen Waffengattungen keinerlei internationales Abkommen.

Der einzige deutsche Wettbewerbsbeitrag ist „24 Wochen“

Es gehe um das Recht auf Glück als Oberthema, hatte Kosslick für diese Berlinale erklärt – und eine ganze Sequenz von Filmen unterzieht die Zuschauer in dieser Hinsicht einem emotionalen Schleudergang nach dem anderen. Der einzige deutsche Wettbewerbsbeitrag, „24 Wochen“ mit Julia Jentsch und Bjarne Mädel in den Hauptrollen behandelt einen Schwangerschaftskonflikt um ein Kind, das das Down-Syndrom und einen Herzfehler haben wird. Anne Zohra Berrached, Absolventin der Filmakademie Baden-Württemberg, hat sich mit dem extrem liberalen deutschen Recht auf Spätabtreibungen beschäftigt. Eine Mutter kann die Schwangerschaft bei einer absehbaren Behinderung des Kindes bis kurz vor der Geburt abbrechen, wenn sie ihre eigene seelische Gesundheit gefährdet sieht. Berrached kommt dem Konflikt in manchen Szenen so nah, weil sie echte Ärzte und Hebammen agieren lässt und die Schauspieler ohne festen Text mit neuen Situationen konfrontiert.

„Die Kommune“ des Dogma-Dänen Thomas Vinterberg ist eine mit genauem Blick und bitterem Humor erzählte, teils autobiografische Geschichte darüber, dass es keine gültigen Rezepte für das Geheimnis des Zusammenlebens gibt, auch wenn Utopien manchmal aussehen wie die Lösung. Die Hauptdarstellerin Trine Dyrholm, die in der Rolle der Anna ihren Mann so sehr liebt, dass sie darüber fast zerbricht, kann sich Hoffnungen auf einen Silbernen Bären machen. Genau wie Isabelle Huppert, die in dem Drama „L’Avenir“ von Mia Hansen-Love eine Philosophielehrerin spielt, deren so sicher geglaubtes Leben von jetzt auf nachher völlig aus den Fugen gerät. Über die Beiträge der Franzosen waren mächtig Vorschusslorbeeren gelegt worden. Verdient hat sie André Techiné, mit 72 Jahren der älteste Regisseur im Wettbewerb – er erzählt in „Quand on a 17 ans“ vor der rauen Kulisse der Pyrenäen eine Coming-Out-Geschichte, die im Kino kaum jemanden unberührt gelassen hat.

Finale: Der Sender 3Sat überträgt am Samstag, 20. Februar, von 19 Uhr an die Verleihung des Bären.