Die Berliner Philharmoniker haben sich nach einer elfstündigen Versammlung auf keinen neuen Chefdirigenten einigen können. Der aktuelle Dirigent Simon Rattle wechselt allerdings zum London Symphony Orchestra. Und nun?

Berlin/Stuttgart - Dieser Montag, an dem ein Chefdirigent gekürt werden sollte, endete anders als von vielen erwartet – jedenfalls wurde das Treffen der 123 Mitglieder der Berliner Philharmoniker gegen Schluss geradezu spannend. Soweit die Öffentlichkeit etwas mitbekam.

 

Vielleicht lag der Dirigent Andris Nelsons – selbst zum engsten Kreis der gehandelten Kandidaten gehörend – vor einiger Zeit nicht falsch, als er in einem Interview flapsig vorschlug, über diese Wahl mit ihren Verwirrungen und Intrigen müsse man eine Oper schreiben.

Was für ein Tag in Berlin. Höchste Sicherheitsstufe herrscht in der Stadt, Israels Präsident Reuven Rivlin wird von Bundespräsident Joachim Gauck empfangen. Und da aus diesem Anlass abends in der Philharmonie ein Festkonzert stattfindet, steht der Chorsaal wie bei der letzten Wahl als Versammlungsort nicht zur Verfügung. Die 123 wahlberechtigten Musiker der 128 Berliner Philharmoniker – einer fehlt, vier befinden sich in der Probezeit und dürfen noch nicht mitentscheiden – kommen um zehn Uhr an einem anfangs geheimen Ort zusammen.

Notar überwacht die Wahl

Und das ist einmalig: ein Orchester bestimmt unabhängig seinen Chef. Alle Mobiltelefone werden einkassiert, der Intendant bleibt ebenso draußen wie die PR-Abteilung. Nur ein Notar soll die Wahlgänge überwachen. Schnell wird am Vormittag bekannt, dass sich das Orchester in Dahlem versammelt hat, im Gemeindehaus der Jesus-Christus-Kirche mit ihrer tollen Akustik. Unzerstört geblieben im Zweiten Weltkrieg, entstanden dort in den fünfziger und sechziger Jahren grandiose Aufnahmen mit den Berlinern. Furtwängler nahm dort Schumanns vierte Sinfonie auf, Karajan stemmte Anfang der Sechziger alle Beethoven-Sinfonien und Wagners „Ring des Nibelungen“. Auch in der Ära Claudio Abbado wurden unterm Kreuz Mikrofone aufgebaut. Das waren Zeiten.

Jetzt sind draußen Dutzende von Journalisten sowie Kamerateams versammelt, die auf Neuigkeiten warten. Die Aussprache der Musiker, eine erste Shortlist mit Kandidaten, Wahlgänge: es zieht sich hin. Eine deutliche Mehrheit soll zustande kommen, das zumindest hatte vorher der Orchestervorstand angekündigt. Eine deutliche Mehrheit – aber wie deutlich genau? Reichen 51 Prozent, zwei Drittel, müssen es 75 Prozent der Musiker sein, die den neuen Chef unterstützen? All das soll auch nach dem Urnengang geheim bleiben, ebenso wie der Fall, dass ein Dirigent zwar gewählt wird, er aber dem Berliner Orchester einen Korb gibt.

Die Wartezeit deutet darauf hin, dass das Finden des Nachfolgers von Simon Rattle, der 2018, nach 16 Jahren in Berlin, zum London Symphony Orchestra wechselt, nicht leicht ist. Zeit für ein Mittagessen bleibt, im Garten des Gemeindehauses werden die Musiker entspannt in der Pause gesehen. Vom frühen Nachmittag an werden die Journalisten vertröstet. Langsam schwillt die Begleitmusik auf Twitter an, kurz nach 17 Uhr poppt die Nachricht auf „Nelsons did it!“ – Urheber angeblich Sarah Willis, die temperamentvolle Philharmoniker-Hornistin. Im Netz folgen auf die Meldung, dass Andris Nelsons das Rennen gemacht habe, Dementi, später stellt sich heraus, dass ein Witzbold den Namen der Musikerin missbraucht hat.

Im RBB Kulturradio orakeln derweil die Experten in einer Sondersendung, der Redaktionsschluss für die ersten Andrucke der Tageszeitungen rückt näher, und Ressortleiter füllen erst mal ersatzweise den frei gelassenen Platz für die allfälligen Aufmacher. Im Halbstundentakt vertröstet nun die Pressestelle der Berliner Philharmoniker die Agenturen.

Disharmonische Anteile

In Berlin dunkelt es, als gegen 21.30 Uhr vier Vertreter des Orchesters und der Intendant Martin Hoffmann sich auf den Treppen der Jesus-Christus-Kirche platzieren. Etwas blass um die Nase sehen sie aus und irgendwie ernst. Der Orchestervorstand Peter Riegelbauer verkündet: „Es gab gute und lebhafte Diskussionen und mehrere Wahlgänge. Aber wir konnten uns leider auf keinen Dirigenten einigen.“ Innerhalb eines Jahres werde man erneut zusammenkommen, um die Wahl fortzusetzen. „Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir dann zu einem Ergebnis kommen.“

Dieses Ende nach mehr als elf Stunden Versammlung ist zwar so laut wie ein Tusch, aber mit deutlich disharmonischen Anteilen. Die Uneinigkeit wirft Fragen auf, und deutet auf mehrerlei hin: das Orchester ist gespalten, und zwar deshalb, weil sich kein Kandidat natürlich als der beste aufdrängt. Man wird nicht weit danebenliegen, wenn sich vermutlich am Ende zwei Fraktionen gegenüberstanden. Hier die Unterstützer des 56-jährigen Berliners Christian Thielemann, derzeit Chef der Staatskapelle Dresden, den die Streicher favorisieren sollen, dort die Unterstützer eines Vertreters der jungen Generation, wahrscheinlich der Lette Andris Nelsons. Der ist, wenn er es geworden wäre, so alt wie Wilhelm Furtwängler, als er 1922 Chefdirigent der Berliner wurde.

Gegen beide spricht viel: gegen Thielemann das beschränkte Repertoire, Reserviertheit gegenüber all diesem neumodischen Kram wie Education-Projekten, Stichwort „Rhythm is it!“. Schwer vorstellbar, dass er wie Simon Rattle ein „Sacre“ aufführt, zu dem dreihundert Jugendliche über die Bühne hüpfen. Nelsons, Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, ist charmant, offen, gibt gerne Interviews. All das, was eine gierige Öffentlichkeit verlangt. Ein hochbegabter Musiker, sicherlich, aber schon auf der Höhe, die diesem Traditionsorchester angemessen ist?

Genau das ist das Dilemma, das die Wahl gezeigt hat. Der Mangel an Klasse bei Dirigenten, die nicht älter als sechzig sind. Überragende Persönlichkeiten sind knapper als knapp. Im Gegenzug werden die Orchester immer besser. Im Augenblick werden Chefdirigenten für das New York Philharmonic, das Fusions-SWR-Sinfonieorchester und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin gesucht. Die Verantwortlichen ächzen und stöhnen – wen gewinnen?

Waghalsiger Vorschlag

Der jetzt aufkommende Vorschlag, sollen die Berliner doch ohne Chefdirigenten auskommen, ist gerade bei diesem Orchester ziemlich waghalsig. Ihr Intendant ist ein Organisator vor ihren Gnaden: doch dieses aus Solisten bestehende stolze Orchester braucht einen Moderator, der die zentrifugalen Kräfte bremst, sie auf ein gemeinsames Ziel lenkt. Schließlich wird nicht nur ein fähiger Kapellmeister gesucht, sondern erklärtermaßen ein künstlerischer Leiter. Irgendjemand muss Programme mitentwickeln, Gastdirigenten und -solisten vorschlagen, sich   der Frage stellen, wie ein Konzertorchester im 21. Jahrhundert agiert mitten in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft.

Der Verweis auf die Wiener Philharmoniker, die auch ohne Chef auskämen, ist müßig: ihre Knute ist der tägliche Dienst im Graben der Wiener Staatsoper, wo es immer wieder Chefdirigenten gibt. Als Privatverein kommen sie dann als Konzertorchester zusammen. Gegen geschätzte Dirigenten, die so oft wie möglich wiederkommen, haben sie übrigens nichts einzuwenden.

Nach dieser Wahl bleibt eine Hypothek: wen die Berliner Philharmoniker in einem Jahr oder wann auch immer wählen – wenn es ihnen denn gelingt, sich zu einigen, und sei es, dass sie das Quorum modifizieren: der, der kommt, weiß, dass er um eine beträchtliche Zahl von Musikern werben muss, die ihn an diesem 11. Mai 2015 nicht haben wollten.