Thomas Ostermeier richtet an der Schaubühne in Berlin Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ ein. Nina Hoss tritt darin nicht nur als Sprecherin auf, sondern auch als Tochter, die an ihren Vater erinnert, den langjährigen Daimler-Betriebsrat Willi Hoss.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Berlin - Ein Tonstudio. Dunkle Holzpaneele. Eine in die Jahre gekommene Kaffeemaschine. Das grüne Lämpchen, das rote Lämpchen: „Achtung Aufnahme.“ Vorne ein Pult für die Sprecherin, hinter der Glasscheibe die Technik. Ein Ingenieur (Renato Schuch), ein Filmregisseur (Hans-Jochen Wagner), eine Schauspielerin (Nina Hoss). Man kennt sich, küsst sich und geht konzentriert an die Arbeit. Eingelesen wird ein Text des französischen Soziologen Didier Eribon von 2009, der sieben Jahre später in der deutschen Übersetzung Furore machte: „Rückkehr nach Reims“.

 

Darin schildert Eribon, Sohn einer Arbeiterfamilie (die Mutter Einwanderin), Jahrgang 1953, mittlerweile in der Nachfolge von Pierre Bourdieu und Michel Foucault (dessen wichtigster Biograf Eribon ist) einer der führenden Intellektuellen Frankreichs, beeindruckend seinen schwierigen Werdegang, sein Coming-out, aber auch und vor allem seine sehr komplexe linke Lebenslüge: Obwohl immer auf der Seite der Arbeiter, vulgo: links, hat er seine Herkunft stets verflucht und jahrzehntelang seinen homophoben Vater gemieden. Längst Teil der sogenannten kulturellen Elite geworden und versiert in der Handhabung ihrer Techniken, bleibt Eribon auch innerhalb dieser Szene ein Fremdelnder. „Rückkehr nach Reims“ ist gleichzeitig Autobiografie und Gesellschaftsanalyse. Immer wieder fragt sich Eribon, warum er, obwohl professionell hauptsächlich interessiert an den Mechanismen von Herrschaft, soziale Fragen lange Zeit ausgeklammert hat. Zudem ist das Buch Feldforschung. Es schildert, wie die linke Arbeiterschaft im doppelten Sinn verfällt: an und für sich und schließlich in ihren Restbeständen an den Front National. Auch weil die Linke schon lange nicht mehr die Sprache der Arbeiter spricht, die im klassischen Sinn keine Arbeiter mehr sind, sondern die der Arrivierten.

Das Theater greift nach jedem Strohhalm

Kann man das alles dramatisieren? Da das Theater im Moment nach Romanen und Filmen greift wie nach existenziellen Strohhalmen, war es nur eine Frage der Zeit, wann Didier Eribons Materialsammlung zum Stoff werden würde. Interessant ist, dass jetzt an der Berliner Schaubühne der Autor sogar eine nicht unbedeutende, wiewohl fast stumme Rolle spielt. Der Regisseur Thomas Ostermeier nämlich hat einen die Vorstellung fast füllenden Film mit Eribon im Mittelpunkt gedreht. Der Autor im Zug nach Reims. Die Kamera zeigt ihn immer wieder, wie er aus dem Abteilfenster in die Landschaft schaut. Dann steht Didier Eribon vor der Schuhschachtel, in der er mit seinen Brüdern groß geworden ist, schließlich vor dem Reihenhaus, wo noch seine Mutter wohnt, in Muizon, einem Vorort von Reims. Mutter und Sohn schauen Schwarz-Weiß-Bilder an. Wer war der, und wer war der? Weißt du noch . . . Man spürt, dass es einmal eine Nähe gegeben haben muss, denn die Mutter hat sich, wie Eribon schreibt, den Buckel krumm geschuftet, dass der Sohn studieren konnte.

Man spürt aber auch, dass alles, was Eribon mitzuteilen hat, nicht an diesem Tisch besprochen wird, nicht besprochen werden kann. Dafür gibt es die Tonspur, und die Tonspur wird, wie gesagt, von Nina Hoss besprochen. Knapp zwei Stunden widmet sich der Abend zusammengestellten Auszügen aus Eribons Buch. Und dann folgt noch eine halbe Stunde, die mit Eribon nichts oder nur entfernt mit ihm zu tun hat. Dazu gleich.

Der Regisseur Ostermeier tut von Anfang an ein bisschen zu viel des Guten, denn der Text der Tonspur, von Nina Hoss im Stil einer Medizinerin gelesen, die eine Anamnese durchführt, deren Ergebnisse sie hörbar anfassen, wird immer wieder förmlich begraben von all den Bildern, die Ostermeier auf der Leinwand oben drüber ineinander schnurren lässt: Das reicht von Ansichten Eribons im himbeerroten Zuschauerraum des Münchner Nationaltheaters (Hochkultur) über eine Politikerschau von Lenin bis zum Agenda-Kanzler Gerhard Schröder (Historie), bis hin zu Filmausschnitten mit Jean Marais, dessen Ansicht Eribons Vater zu besonders wüsten Tiraden gegen Schwule veranlassen konnte. Der Leser von „Rückkehr nach Reims“ kann die Bezüge herstellen, der Nichtleser nicht immer.

Zur Auflockerung gibt es Komödie

Zur Auflockerung, als ob er dem Text nun doch nicht allein traute, vielleicht aber auch rein theaterreflexhaft, lässt Ostermeier immer wieder ein wenig Komödie spielen. Er inszeniert kleine menschliche Kabbeleien zwischen dem Filmemacher und der Schauspielerin. Der Ingenieur, privat in Schwierigkeiten und immer leicht bekifft, bekommt eine Rap-Einlage. Das dehnt den Abend in der Länge, zieht ihn aber auch ziemlich herunter von seinem ernsthaften Ansatz, und nur in Anklängen wird kenntlich, was Eribon in „Rückkehr nach Reims“ jenseits des Persönlichen vor allem beschäftigt: Was war, fragt er schließlich, das eigentlich für eine stalinistisch organisierte Linke, der die Leute massenhaft hinterhergelaufen sind? Was die sozialistische Zwischen- und Schwundstufe unter François Mitterrand? Und was war das für eine Utopie, der die intellektuelle Boheme anhing und -hängt? Was ging wo auseinander beziehungsweise lief nie parallel? Am Beispiel seines Vaters dekliniert Eribon dabei den Hass als Motiv durch: der Hass des zu kurz Gekommenen, der in den Hass auf alles Fremde umschlägt. Das aber illustriert Ostermeier nur vage und bleibt der Vorlage bilder- und pointenselig schuldig, was sie ausmacht: gedankliche Komplexität, die keine einfachen Lösungsmuster kennt und teils ohnmächtig verbleibt.

Dieses – wenn man es so sieht – Defizit muss einigen Beteiligten bewusst gewesen sein. Etwas fehlt: nämlich Hoffnung. Nina Hoss formuliert es genauso, als sie nach zwei Stunden aus der Rolle der Sprecherin heraustritt, um eine zumindest fragwürdige Volte anzukündigen. Von einem Moment zum anderen nämlich wird die ganze Eribon-Geschichte fallen gelassen, um Raum zu schaffen für eine Art Requiem für Willi Hoss, Nina Hoss’ Vater, dessen Geschichte, zumindest in Stuttgart, viele kennen. Auch er ein Arbeiter, auch er ein Kommunist, der aber nie stehen blieb oder gar ins Reaktionäre umkippte, während sich das Rad der Geschichte weiterdrehte.

Willi Hoss griff ins Rad der Geschichte, bis es wehtat

Willi Hoss, Jahrgang 1929 wie Eribons Vater, streitbarer Betriebsrat beim Daimler, Gründungsmitglied der Grünen, Bundestagsabgeordneter und am Ende praktischer Unterstützer indigener Völker im Amazonas, griff stattdessen immer wieder in dieses Rad hinein, bis es wehtat. Auf projizierten Bildern von Nina Hoss’ Smartphone sieht man den Vater als Ikone und die Tochter als Begleiterin seiner letzten Reise, gipfelnd in der Krönung zum Ehrenhäuptling.

Das Private, heißt das unter anderem, und das Politische sind nicht zu trennen. Aber ein bisschen peinlich ist das schon, wie aus der bitteren, präzisen Selbstreflexion des in Berlin anwesenden und ein wenig befremdet sich verbeugenden Didier Eribon umstandslos eine Art Heiligenbildchenparade auf anderer Grundlage wird; bei allem Respekt. Das Theater, von ein bisschen übertriebenem Gekasper ohnehin an diesem Abend des Mittels der Darstellung weitgehend beraubt, kapituliert vor seiner eigentlichen Aufgabe. Es entwickelt szenisch nichts mehr, sondern formuliert lediglich einen Appell, der mit dem Vorhergehenden, so wackelig es ästhetisch gewesen sein mochte, nur ganz vage noch zu tun hat: Werdet wie Willi Hoss! Abgesehen davon, dass sich Geschichte kaum wiederholen lässt, ist das nicht so ganz falsch. Hier aber: auch nicht richtig.