Berlin ist gerade erst dabei, seine Mitte wiederzugewinnen. Wie das aussehen wird? Das meiste ist zur Zeit Spekulation.

Berlin - Wenn man Regula Lüscher eine Weile zuhört, fühlt es sich an, als könne man in ihren Worten spazieren gehen. Einige Schritte am Berliner Schloss entlang der Ostfassade, eine Pause dort im Café mit Blick aufs Wasser, Bänke, Stühle, es duftet nach Linden. Weiter nach Süden flanieren ins Hinterland, vielleicht durch den Schlüterhof nach draußen, dort dann vorbei an Läden, Restaurants, Townhouses – oder in die andere Richtung, wo Menschen sich im Flussbad im Wasser der Spree tummeln.

 

Zukunftsgeschichten. Die Erzählerin und oberste Baufrau der Hauptstadt steht in ihrem Büro im 14. Stock und hält die Augen fest auf einen großen Plan an der Wand geheftet. Sie könnte den Blick von hier aus über die Stadt schweifen lassen, die unter einer sommerlichen Dunstglocke liegt. Aber das, was die Senatsbaudirektorin da im ruhigen Ton der Deutschschweizerin beschreibt, wäre nicht zu sehen. Es muss erst noch entstehen. Berlin ist dabei, seine historische Mitte wieder zu gewinnen. Das dauert, kostet und bedeutet jede Menge Streit um die Deutungshoheit für diesen Ort. Ausgang? Es wird spannend.

Mit puddinggelber Barockfassade

Später Nachmittag im Lustgarten. Von der Spree her beginnen die Baumschatten länger über die Wiese zu fallen, Menschen sitzen im Gras, Kinder klettern und hüpfen kreischend durch die Wasserfontänen. Die Kulisse ist prächtig. Die Sonne steht über dem Alten Museum, der Dom schimmert im Sommerlicht. Und wie auf einer Bühne präsentiert sich – ein riesiger Baustellenklotz mit Smartphonewerbung im Fußballfeldformat. Nur an einer Stelle gibt das Gerüst den Blick frei auf ein Stück puddinggelber Barockfassade. Gekrönt wird das Ensemble von einer mattschwarzen Kuppel, die in ihrem embryonalen Zustand noch alles werden könnte: Moschee, Kirche, Synagoge – oder eben ein nachgebautes Hohenzollernschloss.

Klar, hier wird gerade das Humboldtforum fertig, jenes Museums- und Veranstaltungskonglomerat, das der Anziehungspunkt im historischen Herzen der Stadt werden soll. Und so wenig, wie bis heute eindeutig klar ist, wie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hier ihre außereuropäischen Sammlungen und den erhofften „Dialog“ präsentiert, so unzweideutig ist die Fassade. Wenn Berlin sein Schloss wieder hat, dann werden in der Hauptstadt dreieinhalb Millionen Menschen im Jahr erwartet, mehr als doppelt so viele wie jetzt. Sie werden ankommen und abfahren wollen, essen und trinken, sitzen und flanieren, die Stadtlandschaft bevölkern.

Wie wird das aussehen? Selbst in den schönen Sätzen der Senatsbaudirektorin landet man in einer recht wolkigen Wirklichkeit. Klar ist, dass einiges nicht klar ist – und noch mehr nicht fertig. Und irgendwie scheint es auch keine Eile zu haben.

Das Geschimpfe der Putten-Fans

Seit vier Jahren zum Beispiel liegt ein Plan für die Freiraumgestaltung rund ums Schloss vor. Ganz im Sinne Lüschers, die nicht als Freundin der historisch bruchlosen Rekonstruktion bekannt ist, hat sich ein zurückgenommener, moderner Entwurf durchgesetzt, in dem sich Terrasse und Balustraden von einst nur als Bepflanzung zeigen und der Platz lässt für die vielen Menschen, die erwartet werden.

Dass entschieden wurde, ficht den Förderverein Berliner Stadtschloss nicht an. Die Fans von Putten und Risaliten schimpfen über „Steinwüste“ und „Busbahnhof“ und wollen mehr von damals, mehr vom Gleichen. Sie wollen den Neptunbrunnen, der heute am Rathaus steht, zurück vors Schloss bringen, zum Beispiel, aber auch zwei Statuen von Rossbändigern wünschen sie sich rekonstruiert, dazu eine Adlersäule und fünf Oranierfürsten. Debatten wie diese findet die Senatsbaudirektorin wichtiger als den Streit ums Kreuz auf der Kuppel des Schlosses. „Städtebaulich gesehen sind ganz andere Fragen relevant“, sagt Lüscher. Sie warnt vor anderen Plänen, die debattiert werden – wie den, auf dem Dach des Hohenzollernschlosses ein Restaurant zu errichten. „Hier sehe ich die Gefahr, dass die Rekonstruktion ins Disneyhafte kippt.“

Es könnte auch so schon ziemlich bunt und rummelig werden rund ums Schloss. Nach Osten grenzt das Gebäude an die Spree, dies ist die einzige Fassade, die nicht historisch rekonstruiert ist und deshalb eine Nutzung im Erdgeschoss nach außen zulässt: Hier werden Cafés entstehen. Auf der gegenüberliegenden Seite wird auf der Schlossfreiheit das raumgreifende Denkmal für Freiheit und Einheit gebaut, jene begehbare „Wippe“ des Stuttgarters Johannes Milla, auf der 1400 Menschen Platz haben werden. „Ich glaube, die Wippe wird das Schloss in ihrer baulichen Dimension bedrängen“, sagt Lüscher. Nach vorne, also zum Dom hin, fließt bisher der Verkehr, von hier kommen und gehen Besucher in Scharen.

Trotzdem scheint es nicht abwegig zu sein, dass vor dem Schloss ein Neptunbrunnen stehen könnte, nicht der vom Rathaus allerdings, sondern eine Art doppeltes Lottchen. „Tatsächlich diskutieren wir derzeit die Frage, ob vor dem Humboldtforum ein zweiter Neptunbrunnen aufgestellt wird“, sagt Regula Lüscher und verweist darauf, dass dies nicht die einzige doppelt vorgenommene Rekonstruktion rund ums Schloss wäre: „Das Eosanderportal, das bereits im benachbarten Staatsratsgebäude enthalten ist, wird auch beim Schloss rekonstruiert.“

Dit is’ Balin, möchte man sagen. Nichts zu machen.

Die historische Keimzelle Berlins ist heute ein Unort

Wenn nun der Berlin-Besucher seinen Trip zum Humboldtforum hinter sich hat und – hungrig, durstig, müde – verweilen oder weiterwandern will, gibt es womöglich bald jede Menge Neuland zu entdecken. Am sichersten ist dabei die Planung für das, was heute quasi der Hinterhof des Schlosses bildet. Spektakulär, das versprach schon der Rohbau, wird die Perspektive sein, die mit einer Passerelle durchs Schloss entsteht. Vom Lustgarten kann man sozusagen hindurchspazieren bis zur Breiten Straße.

Das allerdings ist heutzutage noch eher eine Drohung als ein Versprechen – die Stadtplaner der DDR haben aus der Keimzelle des historischen Berlins einen von Straßen zerschnittenen Unort gemacht. Aber das soll sich ändern. Entlang der Spree entstand im Mittelalter der Ort Cölln, hier lagen Rathaus und Petrikirche, lange bevor im 15. Jahrhundert die Kurfürsten nördlich davon ihr Schloss bauten. Wer auf sich hielt, von Adel war oder sehr reich, wohnte in der Breiten Straße und der Brüderstraße, später entstand hier das Kaufhaus Hertzog, rund um die Gertraudenbrücke herrschte reges Leben. Das kann heute keiner mehr behaupten. Sechs Spuren hat die Gertraudenstraße, die Stadt zerschneidend, eine Petrikirche gibt es längst nicht mehr.

Aber wenn es so läuft, wie Berlin sich das vorstellt, entsteht hier ein neues Quartier, ein „lebendiges Hinterland“, wie Lüscher glaubt. An der Breiten Straße werden Wohnungen gebaut, der Garten des ehemaligen Staatsratsgebäudes wird öffentlich, am Petriplatz, wo heute Unkraut hinter einem Bauzaun wuchert, soll das „House of One“ gebaut werden, ein interkonfessionelles Bet- und Versammlungszentrum für Juden, Christen, Moslems. Am Petriplatz sollen Läden, Restaurants und Büros entstehen – und ein archäologisches Besucherzentrum, in dem man das Alte der sich rasend schnell wandelnden Stadt begreifen kann. Wann? Ein paar Jahre Geduld wird man brauchen.

Flussbad in der Spree gefällig?

Immerhin sind diese Pläne deutlich konkreter als alles, was man für die seltsam herzlose Gegend östlich der Spree zum Fernsehturm hin finden kann, wo sich im Mittelalter noch schmale Häuser dicht an dicht drängten und enge Gassen bildeten. Zwischen breiten Straßen liegt hier viel schlecht gestaltete, freie Fläche, flankiert von Plattenbauten. Diese Gegend zwischen Museumsinsel, Uni und Staatsoper auf der einen, Alexanderplatz auf der anderen Seite wird von Millionen Menschen eher überwunden als betreten. Solche offenen Räume sind in Berlin nicht nur eine Chance, sondern auch immer ein Risiko – wo Menschenmassen sich tummeln, herrscht akute Bretterbudenrummelgefahr. Beispiele für solche hässlichen Orte gibt es genug, am Checkpoint Charlie, am Holocaustmahnmal, am Breitscheidplatz.

Viel ist darüber geredet worden, was hier städtebaulich passieren soll. In drei Berliner Koalitionsvereinbarungen findet sich die Entwicklung des Areals inzwischen als Ziel, es gab eine breit angelegte Debatte, aus der Bürger, Fachleute und Lobbygruppen zehn Leitlinien entwickelten, die in aller Bescheidenheit als „neue Vision für Mitte“ bezeichnet wurden. Fest steht: die Debattenteilnehmer haben sich dagegen ausgesprochen, die wertvollen Grundstücke dicht zu bebauen. Sie wollen, dass das Areal ein öffentlicher, nicht kommerzieller Ort wird. Das ist ihre Vision. Konkreter wird es nicht.

Noch wolkiger – und teils spektakulär – sind langfristigere Ideen für die historische Mitte. So könnte aus dem Boulevard Unter den Linden eine autofreie Zone werden. Der Gedanke gewinnt an Charme, wenn man sich dazu die Realisierung des Projekts „Flussbad“ vorstellt: Der Spreekanal westlich der Museumsinsel könnte ein großes Naturschwimmbad werden, mit Freitreppen vorm Humboldtforum oder dem Alten Museum und natürlichen Filterflächen zu beiden Seiten. Was wie eine Utopie klingt, ist viel konkreter als andere Vorhaben: Bis Ende 2018 stellen Bund und Land vier Millionen Euro zur Verfügung, um die Flussbad-Idee weiter zu entwickeln.