Mord im Gefängnis? Wenn Bernd Brinkmann einen Todesfall untersucht, ist das Ergebnis oft von politisch brisant. Der Rechtsmediziner seziert prominente Mafiaopfer ebenso wie tote Kleinkinder. Für die Rolle des Professor Boerne im ARD-Tatort aus Münster stand er Pate.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Münster - Dieser Mann kann Regierungen in Bedrängnis bringen. Dabei sieht Bernd Brinkmann gar nicht gefährlich aus: jungenhafter Kurzhaarschnitt, randlose Brille, Jeans und Pulli. Auf einem Tisch hinter ihm liegen Papierstapel. Von seinem Schreibtisch schaut der 77-Jährige auf eine Regalwand mit Fachliteratur. Auf dem obersten Brett stehen Urkunden. Er sitzt in einem unspektakulären Büro in einem unscheinbaren Gewerbebau am Rande Münsters.

 

Brinkmanns Kapital ist seine Erfahrung, seine Unerschrockenheit und außerdem noch eine Portion „schlechte Fantasie“, wie er selber anmerkt. „Man muss wissen, wie rau der Alltag sein kann.“ Er weiß es, weil er in der Hamburger Gerichtsmedizin angefangen hat. „Da gibt es eine extreme Variationsbreite an Gewalt.“ Wissenschaftlich formuliert. In der Praxis reicht die Gewalt von aus dem Fenster geschleuderten Prostituierten bis zu ins Gesicht getretenen Menschen.

Brinkmann ist einer der führenden Rechtsmediziner Europas. Von 1981 bis 2007 leitete er das rechtsmedizinische Institut der Universität Münster. Noch immer hat er den unüberhörbaren hanseatischen Zungenschlag, obwohl er nun schon fast ein halbes Leben in Münster lebt. Den Rotariern in seiner Heimatstadt Hamburg wird er demnächst bei gediegener Atmosphäre ein paar Takte über den fast perfekten Mord erzählen und für ein bisschen wohligen Schauer sorgen. Als emeritierter Professor hat er Zeit – oder er kann sie sich zumindest einteilen. Denn ein gefragter Gutachter ist er immer noch.

Im Münsterland gibt es archaische Morde mit Gift und Axt

Brinkmann ist Vertreter einer Zunft, die um Fördergelder kämpfen muss, weil sie nicht mit Heilungserfolgen aufwarten kann, im Fernsehen aber gute Einschaltquoten bringt. Zusammen mit dem Kollegen Klaus Püschel hat er für Obduktionen gekämpft, um sonst unentdeckte Tötungsdelikte aufzudecken. Aber genauso oft wird durch seine Expertise ein vermeintlicher Mord zu einem natürlichen, damit aber nicht minder tragischen Tod. In Dortmund versucht er das Gericht gerade davon zu überzeugen, dass ein kleiner Junge nicht von seiner Mutter getötet wurde, sondern durch einen Sturz aus niedriger Höhe gestorben ist.

Seine manchmal unorthodoxe Art und seine Leidenschaft, auf die Toten durch eine andere Brille als Polizei und Staatsanwaltschaft zu schauen, haben ihn zur Vorlage für Professor Karl-Friedrich Boerne, den von Jan Josef Liefers gespielten Rechtsmediziner im ARD-„Tatort“ aus Münster, werden lassen. An den lang zurückliegenden Besuch von gleich mehreren Vertretern des WDR, die wissen wollten, ob im Münsterland irgendetwas anders sei als in anderen Städten und das Institut zum „Tatort“-Schauplatz tauge, erinnert er sich dunkel. Nun ja, habe er damals gesagt, ein paar archaische Morde gebe es hier schon, mit Gift oder der Axt. Aber dann habe er anderes zu tun gehabt und sich von den Besuchern verabschiedet. Die Arbeit wartete schon wieder auf ihn. Dieses Brennen für die Sache kann durchaus skurril wirken.

Der Selbstmord war ein Tod durch fremde Hand

Denn schon zieht Brinkmann Fotografien aus einer Kladde, die ihn mit einer elastischen Binde um den Hals am Garderobenhaken in seinem Arbeitszimmer hängend zeigen. Natürlich gestützt von anderen, damit nicht wirklich etwas passiert. Dieser Selbstversuch ist Teil seiner Beweisführung zum Tod des Ex-Schwiegersohns des kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew. Rakhat Aliyev, so sein Name, soll sich im Februar 2015 in einer Wiener Gefängniszelle erhängt haben. In Wien wurde ihm, selbst kein netter Zeitgenosse, der Prozess wegen Mordes gemacht. Seine Verbindungen in die österreichische Politik und Wirtschaft sollen weit reichen. Drei Gutachter sprechen von Selbstmord.

Doch dann kommt Brinkmann ins Spiel, beauftragt von den Anwälten Aliyevs. Brinkmann, das sagt er ohne Eitelkeit, kennt sich aus. Er habe an die Hundert Erhängten in seinem Berufsleben untersucht. „Aber kein einziges Mal habe ich ein solches Stauungssymptom gesehen“, sagt er. Nichts passe bei diesem vermeintlichen Selbstmord zusammen. Weder, wie der Mann sich aufgehängt haben soll, noch die Verfärbungen an seinem Körper. Brinkmann sieht das beim ersten Blick auf die Fotos. Die Leiche ist zu diesem Zeitpunkt längst begraben.

Und so hätten sie – anders als in Hamburg bei den Rotariern – in Wien auf den Grusel, den Brinkmann mitunter verbreitet, wohl gern verzichtet. Kurz vor Weihnachten ließ er die Bombe platzen. Sein Gutachten über die Todesursache endet mit dem lapidaren Satz: „Es handelt sich damit um eine Tötung durch fremde Hand.“ Mit anderen Worten: um einen Mord im Knast – einen veritablen Justizskandal also. Das Aufhängen erfolgte wahrscheinlich nach dem Tod oder in der Sterbephase. Nachdem der Mörder mehrere Minuten lang auf dem Brustkorb Rakhat Aliyevs gesessen und ihm den Mund zugedrückt habe.

Vor dem Gutachten ist es gut zu schweigen

„Ich habe ja, als die Anfrage kam, auch erst gedacht, was soll das? Ein Mord im Gefängnis? Wir sind doch nicht auf dem Balkan.“ Doch dann hat er sich die vielen Fotos des Toten angesehen, sich einen Knotenexperten gesucht – und seine verstörende Expertise in ein 18-seitiges Gutachten gepackt. Gewundert habe er sich schon, wie die Kollegen vor ihm gearbeitet haben. Schließlich steht Brinkmann auch für die Qualitätsstandards der Branche. Bis 2010 führte er die Spurenkommission. Rechtsmedizinische Institute aus ganz Europa haben sich dort zusammengeschlossen, um nach einheitlichen Qualitätsstandards zu arbeiten.

Doch bringt sich, wer solche Gewissheiten erschütternden Erkenntnisse wie in Wien an den Tag bringt, nicht selbst in Gefahr? „Doch, schon“, sagt Brinkmann, der Erfahrung mit politisch-brisanten Befunden hat. „Wenn du es schaffst, dass während des Erstellens des Gutachtens nicht bekannt wird, dass du der Gutachter bist, dann ist das eigentlich relativ ungefährlich“, habe man ihm gesagt. In Wien habe er sein Untersuchungsergebnis ja im Rahmen einer Pressekonferenz vorgestellt. „Da kann wirklich keine Gefahr bestehen, alles andere wäre dann schon wieder ein Krimi.“

Als er jedoch den Tod des in London erhängt aufgefundenen Mafia-Bankiers Roberto Calvi untersuchte, „wurde mir sehr intensiv das Angebot aus Italien gemacht, mich bei meinem Gutachten zu unterstützen. Das sei doch alles auf Italienisch viel zu schwierig zu verstehen“, erzählt er ruhig. Die Auskunft des Staatsschutzes: Wenn’swirklich gefährlich wird, bekommst du von der Mafia eine deutliche Warnung. Die Warnung blieb aus, Brinkmann machte weiter. Es kam zu einem Mordprozess.

Die deutsche Zeitgeschichte auf der Seziertisch

Aber auch seine anderen Fälle lesen sich wie ein Who’s who der Zeitgeschichte. Brinkmann war der Erste, der im Fall des Phantoms von Heilbronn auf die mögliche Verunreinigung von Verbrauchsmaterialien hinwies. Er ordnete die DNA am Bekennerschreiben zum Mord an Generalbundesanwalt Buback Verena Becker zu. Die Untersuchung der Waffe des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams nahm sein Institut zumindest räumlich sehr in Beschlag. 1993 bewegte die Republik die Frage, ob Grams sich in Bad Kleinen bei einem missglückten GSG-9-Einsatz selbst getötet hatte oder von einem Beamten erschossen worden war. Lastwagenweise wurde die Ausrüstung aller am Einsatz beteiligten GSG-9-Beamten nach Münster gekarrt. Der Druck der Öffentlichkeit war groß, in der Politik rollten Köpfe, aber Brinkmann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Wie kommt das Blut in Tropfenform auf die Waffe, lautete die Frage. Ein Neurophysiologe berechnete schließlich, dass der Arm bei einer Selbsttötung schon nach einer 50 000stel-Sekunde schlaff wird. Brinkmann setzte das in Relation zu der Fließgeschwindigkeit des Blutes – und schloss die Mordthese aus, weil er zeigen konnte, wie das Blut auf die Waffe geregnet war. Diesmal atmete der Staat – anders als in Wien – erleichtert auf.

Brinkmann erzählt das ohne Eitelkeit. Manchmal lacht er dabei durchaus amüsiert über die eigenen Worte, als höre er sich selbst zu und wundere sich über die Abgründe des Verbrechens und seine Wege, ihnen auf die Spur zu kommen. Und vielleicht auch ein wenig über sich selbst. Schließlich hatte er als Student, nachdem er von Jura auf Medizin gewechselt hatte, ein ziemliches Problem: Er hatte Angst vor Leichen. Zur Klärung entschied er sich für etwas, was man wohl Konfrontationstherapie nennen kann. Er jobbte in der Hamburger Gerichtsmedizin in der Leichenannahme, bestand die sich selbst gestellte Prüfung und hatte seine Berufung gefunden

Brinkmann hat immer auf den Fortschritt gesetzt

Aufhören hätte er schon einmal können. Aber nach seiner Pensionierung wollte die Universität die von ihm aufgebaute DNA-Arbeitsgruppe nicht weiterführen. Dabei hatte Brinkmann, der Fortschrittsgläubige, bundesweit Aussehen damit erregt, dass er bislang offene Mordfälle klären konnte. Getreu der Maxime, nie eine Spur „total zu verbraten“, sondern immer einen Rest für die Zeit mit neuen Untersuchungsverfahren aufzubewahren. Hätte das BKA nicht die Zigarettenkippe aufgebraucht, die man dort fand, wo der Mörder des Treuhandmanagers Detlev Karsten Rohwedder stand, „wüssten wir heute, wer dieser Mensch war“, sagt er.

Es gab kein Aufhören. Er machte mit seinen Mitarbeitern in seinem privaten Institut für forensische Genetik weiter. Jetzt wird er gerufen, wenn die Verteidigung die Erfahrung eines langen Rechtsmedizinerlebens braucht. Im Fall Kachelmann etwa. Dass ihn ein Gericht wie jüngst in Dortmund nun ermahne, auch objektiv zu sein, ist für ihn eine Novität. „Es ist doch unsere heilige Pflicht, objektiv zu sein. Sonst ist man doch sofort weg vom Fenster.“ Denn so viel ist klar: Den Zeitpunkt zum Aufhören wird er sich nicht von außen diktieren lassen. Wieder lacht er.