Kultur: Tim Schleider (schl)
Gibt es bei Katastrophen dieser Art wirklich noch Unter-schiede zwischen der Berichterstattung von Boulevardmedien und der seriösen Nachrichtenpresse?
Ja, das würde ich sagen. Den mutmaßlichen Täter zu dämonisieren, ihn zum Monster zu erklären – das ist nach wie vor die grausige Spezialität des Boulevards. Und doch verschärfen die allgemeine Hektik und der Wettlauf um den Scoop einen Grundkonflikt, der alle Medien gleichermaßen betrifft und der sie ähnlicher werden lässt: Es ist der Grundkonflikt zwischen Geschwindigkeit und Genauigkeit. Wer zu schnell ist, liegt womöglich falsch; und wer zu lange braucht, kann keine exklusiven News präsentieren. Das ist ein Dilemma aller Medien.
In den sozialen Netzwerken gibt es heftige Beschwerden, auch die sonst seriösen Medien hätten ohne Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte über die Angehörigen der Opfer und dann über das Leben und die Familie des Co-Piloten berichtet. Zu Recht?
Das ist ein hochinteressanter Punkt. Als Bürger teile ich viele Kritikpunkte. Als Wissenschaftler zeigt mir dies, dass die Vierte Gewalt des Journalismus heute zunehmend durch die Fünfte Gewalt des Publikums beobachtet und eben auch kontrolliert und kritisiert wird. Hier treten die vernetzten Vielen als eine neue Macht in Erscheinung. Sie geben auf Twitter und in sozialen Netzwerken ihr Urteil ab, posten ihre Nachrichten und Einwände, machen ihre Empörung und mitunter auch ihren Ekel sichtbar.
Wie sehen Sie die Berichterstattung über den Co-Piloten der Unglücksmaschine?
Es gibt eine heftige Debatte darüber, ob man das unverpixelte Foto des Co-Piloten zeigen und seinen vollen Namen nennen darf. Das ist selbst unter Juristen umstritten, wobei die Informationsrechte der Öffentlichkeit im Zweifel höher gewichtet werden. Die Frage ist, ob man das, was juristisch gestattet ist, auch ethisch-moralisch als gerechtfertigt betrachtet. Und da bin ich skeptisch. Welchen Informationswert hat das Bild? Was sagt uns der volle Name? Hier besteht doch die Gefahr, dass die gewiss entsetzlich geschockten Angehörigen des Co-Piloten selbst zu Opfern werden, weil sie ins Zentrum eines Erregungsexzesses geraten.
Die ersten Talkshows zum Thema sind ja bereits gelaufen. Wie lang wird der Absturz unser Abendprogramm bestimmen?
Es mag zynisch klingen, aber die allgemeine Aufmerksamkeit wird nicht mehr lange anhalten und die Ermüdung der Medien und des Publikums alsbald einsetzen. Rein nachrichtentechnisch, kalt und letztlich pietätslos formuliert: Wenn sich – nach der psychologisierenden Aus-leuchtung und Motivinterpretation des mutmaßlichen Täters – nichts Neues mehr ergibt, werden sich bald neue Krisen- und Katastrophenmeldungen in das öffentliche Bewusstsein drängen.