Der eine ist vor der Diktatur in Eritrea geflohen, der andere vor dem Krieg in Syrien. Beide haben hier Zuflucht gefunden. Nun lernt Simon beim Konzern mit 20 000 Beschäftigten, Omar beim Handwerker mit acht Mitarbeitern. Die Hürden sind ähnlich hoch.

Stuttgart - Es gibt Zeitverzögerungsventile und bistabile Ventile.“ Diese Fachbegriffe aus der Pneumatik kommen selbst einem deutschen Muttersprachler nicht leicht über die Lippen – geschweige denn, dass man als Laie inhaltlich etwas damit anfangen könnte. Für Simon Zeru, der vor 15 Monaten sein erstes deutsches Wort gesprochen hat, stellt beides keine große Hürde mehr dar.

 

Mit seiner Frisur und dem schelmischen Grinsen ähnelt der 22-jährige Eritreer dem Torjäger Pierre-Emerick Aubameyang. Auch Zeru spielt gern Fußball, momentan fehle ihm aber die Zeit dafür. Gerade steht er an der Tafel und beschreibt vor den Augen seiner Klassenkameraden den Schaltplan einer automatischen Schiebetür. Es ist einer der letzten Tage, die die 14 jungen Männer aus Afghanistan, Syrien, Eritrea und Somalia gemeinsam verbringen. Hinter ihnen liegen elf Monate, in denen sie in der Ausbildungswerkstatt der EnBW-Tochter Netze BW in Stuttgart auf eine Berufsausbildung vorbereitet wurden.

Was im Fachjargon technokratisch als Einstiegsqualifizierung (EQ) bezeichnet wird, klingt bei Ausbilder Tobias Leopold so: „Wir bringen die Jungs in einem Jahr von Sprachniveau A2 oder B1 auf B2 und legen den Grundstein für ein möglichst breites technisches Verständnis.“ Dabei setzen Leopold und sein Kollege Mehmet Bozdemir die Latte keineswegs niedrig an. Die jungen Männer müssten nachher in der Lage sein, sowohl der praktischen Ausbildung im Betrieb als auch dem Theorieunterricht in der Berufsschule zu folgen – ohne Abstriche, genau wie alle anderen Lehrlinge.

Der Ausbilder hat früher Offshore-Windparks geplant

„Unser Ziel ist, möglichst viele von ihnen fit für eine Lehre zu machen“, sagt der Wirtschaftsingenieur, der seit 2009 beim Energiekonzern ist. Vor anderthalb Jahren hat er sich freiwillig als Ausbilder für das EQ-Flüchtlingsprogramm des Konzerns gemeldet. Statt Offshore-Windparks zu planen oder Großkunden zu betreuen, beschäftigt sich der 40-Jährige seither eher mit lebenspraktischen Fragen. Manche der jungen Männer hätten wegen Behördenterminen die halbe Nacht vor dem Rathaus verbracht und seien zu spät oder völlig übermüdet zum Unterricht gekommen. Daneben galt es, sie vom Sinn der dualen Ausbildung zu überzeugen. „Viereinhalb Jahre EQ und Ausbildung sind eine lange Zeit“, sagt Leopold. „Dort, wo die Jungs herkommen, fangen sie mit 15 Jahren an zu arbeiten.“ Er erklärte ihnen wieder und wieder, dass es sich in jeder Hinsicht mehr lohnt, zunächst einen Beruf zu erlernen. „Die Alternative ist ein Leben als Hilfsarbeiter und dauerhaft weniger Lohn.“

Die Bemühungen haben immerhin bei zehn von 16 EQ-Teilnehmern gefruchtet. Sie beginnen im September eine Ausbildung zum Mechaniker oder Elektroniker, während in der Stuttgarter Lehrwerkstatt der zweite EQ-Jahrgang mit 17 jungen Männern startet.

Simon Zerus Arbeitswoche sah im vergangenen Jahr so aus: drei Tage fachlicher Unterricht, zweimal vier Stunden Deutsch in der Berufsschule sowie Fachdeutsch im Betrieb. Dem Unterricht zu folgen fällt dem 22-Jährigen nicht schwer. Er ist schon in seiner Heimat zwölf Jahre zur Schule gegangen – sein Abschluss wurde ihm in Deutschland als mittlere Reife anerkannt. „Ich war nicht so schlecht in Mathe und Physik“, sagt der angehende Lehrling, der vor etwas mehr als einem Jahr nur Englisch und seine Muttersprache Tigrinya gesprochen hat. Nun spricht er Deutsch, zwar noch etwas vorsichtig, aber nahezu fehlerfrei. In wenigen Tagen beginnt seine Lehre zum Elektroniker für Betriebstechnik in Herrenberg. „Elektrotechnik finde ich cool. Die Sprache ist nun am wichtigsten – aber ich denke, das wird schon klappen“, sagt er.

Lebenslanger Militärdienst ist Pflicht in Eritrea

Eine Ausbildung war in Eritrea unerreichbar für ihn. Wie alle jungen Männern in dem nordostafrikanischen Land, das sich im Krieg mit dem Nachbarn Äthiopien wähnt, wurde Simon nach der Schulzeit zum Militär eingezogen. Die vorher zugesagte Ausbildung in der Armee erwies sich als Lüge, und die Aussicht auf ein ganzes Leben als Soldat trieb ihn zur Flucht. An eine Rückkehr ist unter den jetzigen Verhältnissen in Eritrea nicht zu denken. Das Land gilt als Diktatur und zählt zu den Herkunftsstaaten, in die Deutschland wegen der andauernden Menschenrechtsverletzungen niemanden zurückschickt.

Simon ist seit August 2015, dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle, in Deutschland. Die ersten gut anderthalb Jahre verbrachte er in einer Sporthalle in Kirchheim mit 300 anderen Flüchtlingen und in einem Zelt in Dettingen mit rund 90 Bewohnern. Seit wenigen Monaten lebt er in einem Gemeindehaus in der Nähe von Nürtingen. Er teilt sich dort eine WG mit sechs anderen jungen Männern. Der Schritt in ein normales Leben nach westlichen Vorstellungen ist nicht mehr groß.

Ein 21-jähriger Syrer hat in einer Malerwerkstatt mehr als nur einen Job gefunden

Es ist Mittagspause in der Malerwerkstatt. Gelegenheit für Omar Abdelkarim, den Pinsel beiseite zu legen und an die nächste Herausforderung zu denken. Noch ist ein ganzes Jahr Zeit. Erst am Ende des zweiten Lehrjahres muss er in die Zwischenprüfung. Schriftliche Leistungsnachweise sind allerdings ein Thema, bei dem sich der sonst ordentlich Deutsch sprechende Syrer etwas wortkarg gibt. „Wir setzen uns nach der Arbeit mit Omar zusammen und besprechen schlechtere Testergebnisse“, sagt Hartmut Nietsch. Wenn sein Azubi etwas theoretisch nicht verstehe, versucht er es ihm praktisch zu zeigen. „Ich bin mir sicher, dass wir bis zum Ende des zweiten Ausbildungsjahres eine Verbesserung in Deutsch schaffen“, sagt er.

Das ist auch schon das einzige Defizit, das der 47-jährige Malermeister aus Aidlingen im Landkreis Böblingen bei seinem 21-jährigen Schützling ausgemacht hat. Ansonsten ist Nietsch voll des Lobes für Omar, der 2012 mit seinen Eltern und Geschwistern vor den Bürgerkriegswirren im Norden Syriens zunächst ins Nachbarland Libanon geflohen war. Dort arbeitete er in einer Schokoladenfabrik. 2013 gelang die Ausreise über die deutsche Botschaft im Libanon. Heute teilt sich Omar mit seinem älteren Bruder eine Wohnung in Aidlingen. Er habe vom ersten Tag an einen sehr guten Eindruck hinterlassen, erinnert sich Hartmut Nietsch.

Weil der Handwerksmeister seinen Nachwuchs vor allem über Praktika von Schülern aus der örtlichen Werkrealschule rekrutiert, sieht er schnell, wer handwerkliches Talent besitzt und motiviert ist. Als es nach der Renovierung eines benachbarten Optiker-Geschäfts eine Wiedereröffnungsfeier gab, sei Omar nicht nur vorbeigekommen, sondern er habe auch Freunde und Geschwister mitgebracht, um ihnen stolz die von ihm gespachtelten Kanten zu zeigen. „Ich hatte es ihm vorher nur zweimal gezeigt, er hat ein Händchen dafür“, sagt der Chef. Sein Lehrling zahlt das Vertrauen nicht nur mit Leistung zurück. „Ich habe hier eine zweite Familie gewonnen“, sagt er. Neben Nietsch und seinem Kompagnon Hans-Joachim Jusztusz arbeiten in der Malerwerkstatt noch die Frau des Chefs, drei Gesellen und ein weiterer Azubi. „Wir merken, dass Omar sich hier wohlfühlt und etwas zurückgeben möchte“, sagt Nietsch. Er engagiere sich auch beim DRK und beim Asylkreis am Ort.

Der Lehrling hilft ehrenamtlich beim Asylkreis und beim DRK

Umgekehrt hat sich auch der kleine Handwerksbetrieb auf die ungewohnten kulturellen Gepflogenheiten eingestellt: Während des Ramadans, dem Fastenmonat der Muslime, darf Omar früher mit der Arbeit beginnen und an heißen Tagen möglichst lange im Schatten arbeiten, damit er sich nicht der Gefahr aussetzt, in der Sonne zu dehydrieren. Auch die Gebetszeiten werden abgesprochen. „Das ist ein Mehraufwand, den wir gegenüber einem deutschen Azubi haben“, sagt Nietsch. Doch diesen Preis nimmt der Meister gerne in Kauf, schließlich bekommt er dafür einen motivierten Mitarbeiter. In der Nähe zu seinen Angestellten sieht er den deutlichsten Unterschied zu einem Großunternehmen: „Zu mir kann jeder kommen, wenn er etwas besprechen möchte.“

Doch anders als ein Konzern in der Stadt kann der Handwerker auf dem Land seinen Beschäftigten eines nicht bieten: Anonymität, die den Einzelnen auch schützen kann. In Aidlingen, einer Gemeinde mit rund 9000 Einwohnern, kennt vielleicht nicht jeder jeden, aber doch die allermeisten die Malerwerkstatt Jusztusz und Nietsch. Der redselige Chef ist mit seinem Azubi von Anfang an in die Offensive gegangen: „Das ist unser Omar. Er ist ein Flüchtling und er schafft jetzt bei uns“, mit diesen Worten stellte der schwäbische Handwerksmeister seinen syrischen Lehrling auf jeder neuen Baustelle vor. Obwohl er insgeheim die eine oder andere abweisende Reaktion befürchtet hatte, wurde er positiv überrascht: „Kein einziger Auftraggeber hatte ein Problem damit“, sagt Nietsch.

Omar will noch ein viertes Lehrjahr dranhängen

Die Fachwerkerausbildung zum Bau und Metallmaler, normalerweise auf zwei Jahre angelegt, absolviert Omar in drei Jahren. Anschließend, ist Hartmut Nietsch überzeugt, werde er noch ein viertes Jahr für die vollwertige Ausbildung zum Maler- und Lackierergesellen dranhängen. „Wir wollen das zusammen schaffen.“

Seine erste Prüfung in Deutschland hat der 21-Jährige mittlerweile auch bestanden: die theoretische Fahrprüfung. Den Termin für die erste Fahrstunde will er bald ausmachen. Sein Ziel hat Omar auch dabei genau vor Augen: Ein großes Auto mit mindestens sieben Sitzen, damit genug Platz für die ganze Familie ist. „Ich will sie fahren: zu Terminen beim Amt oder beim Arzt und in die Moschee nach Sindelfingen.“ Dann ist die Mittagspause vorbei und der Lehrling macht sich wieder an die Arbeit.

Einstiegsqualifizierung und 3+2-Regelung erleichtern den Start

Perspektive
Der Großteil der Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, ist sehr jung. Einen vielversprechenden Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt bietet ihnen die duale Berufsausbildung. Und als eine erfolgreiche Brücke in diese Ausbildung hat sich die sogenannte Einstiegsqualifizierung (EQ) erwiesen: Während eines sechs- bis zwölfmonatigen Langzeitpraktikums werden Jugendliche dabei speziell gefördert und auf eine Lehre vorbereitet. Ausbildung
Im zurückliegenden Ausbildungsjahr hatten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) bundesweit lediglich 3600 Flüchtlinge einen Ausbildungsvertrag abgeschlossen. Die BA rechnet aber mit einem deutlichen Anstieg im kommenden Lehrjahr. Demnach seien momentan rund 21 000 junge Flüchtlinge ausbildungsreif.

Rechtslage
Arbeitgeber konnten sich lange Zeit nicht sicher sein, ob ein Flüchtling ohne anerkannten Asylstatus überhaupt lange genug hierbleiben darf, um seine Lehre zu beenden. Dieses Hemmnis ist mit Inkrafttreten des Integrationsgesetzes zum 31. Juli 2016 weggefallen. Seither gilt die sogenannte 3+2-Regelung. Das heißt, auch viele Flüchtlinge, deren Antrag auf Asyl abgelehnt wurde (Geduldete), dürfen während einer Ausbildung für die Dauer von drei Jahren sowie bei einer Übernahme für weitere zwei Jahre in Deutschland bleiben.