Fast 400.000 Menschen sind jeden Tag in Stuttgart und Region zwischen Wohn- und Arbeitsort unterwegs. Aber nicht das Pendeln ist das Problem, sondern die Schwerfälligkeit der Politik, meint StZ-Titelautor Christian Milankovic.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Stuttgart - Die Zahlen sind gigantisch: Nahezu 240 000 Menschen, die nicht in Stuttgart leben, haben ihren Arbeitsplatz in der Landeshauptstadt. Und von den gut 620 000 Stuttgartern machen sich regelmäßig 87 000 auf, um zu ihrem Job im Umland zu fahren. Zusätzlich dazu pendeln mehr als 150 000 Stuttgarter intra muros – die Stadt und die Region sind schwer auf Achse.

 

Das ist zunächst einmal die Realität, die es anzuerkennen gilt. Denn die Frauen und Männer, die viel Zeit unterwegs verbringen, tun das nicht, weil ihnen danach ist. Sie tun es, weil es für sie eine Notwendigkeit ist. Daher geht die im politischen Raum stehende Frage, wie der Pendlerverkehr reduziert werden kann, an der Lebenswirklichkeit vorbei. Auch hier gilt das oft strapazierte Zitat des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher: „Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit“. Dazu gehört die Bereitschaft bei den politischen Entscheidern, diese Wirklichkeit dann auch anzuerkennen.

Die hohe Verkehrsbelastung in Stuttgart ist eine der Hauptursachen von Feinstaub. Alles Wichtige zum Thema Feinstaub sehen Sie im Video:

Wohlfeile Ratschläge

So entpuppt sich die wohlfeile Forderung, die Wege zwischen Wohn- und Arbeitsort so kurz wie möglich zu gestalten, als Worthülse. In Stuttgart, wo eben ein Gros der Arbeitsplätze angesiedelt ist, verkommt die Wohnungssuche zum Glücksspiel. Der Wohnraummangel aber kommt nicht von ungefähr. Wenn der Gemeinderat die zur Verfügung stehenden Flächen sehenden Auges künstlich verknappt, darf man sich im Rathaus nicht wundern, wenn es an allen Ecken und Enden fehlt. Wo aber nicht in die Fläche gebaut werden darf, muss es in die Höhe gehen dürfen. Doch mit Hochhäusern tut man sich in der Landeshauptstadt erkennbar schwer.

Bliebe die Alternative, die Arbeitsplätze in die Region zu verlagern. Doch der Blick über den Kesselrand ist ernüchternd. Bereits im vergangenen Herbst erlaubte sich die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart den Hinweis, dass gerade noch 93 Hektar neuer Gewerbe- und Industrieflächen zur Verfügung stünden. Zur Einordnung: Das ist in etwa die Größenordnung der Landesmesse beim Flughafen. Und selbst wenn es mehr wären: Auch in den Umlandgemeinden gibt es rege Umweltverbände und Anwohner, die weitere Expansionspläne kritisch sehen.

Mehr Ernsthaftigkeit wäre gefordert

Also muss die Politik eine Antwort auf die Frage finden, wie mit den unvermeidlichen Pendlerströmen anders umgegangen werden kann als heute. Da erkennbar der Wille zum Ausbau des Straßennetzes fehlt, wäre eine Nahverkehrsoffensive nötig, die diesen Namen auch verdient. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit ist jedoch ernüchternd. Da sollen es Expressbusse richten – die auf den notorisch verstopften Straßen in der Region unterwegs sein sollen. Da überbieten sich Landratsamt und Rathaus in Ludwigsburg in immer neuen Vorschlägen, eine brach liegende Schienenstrecke zu reaktivieren. Oder da füllt die grün-schwarze Landesregierung einen Fördertopf für Stadtbahnen – aus dem aber nur Ersatzzüge finanziert werden können. Bei dringend benötigten Erweiterungen der Flotten schauen die Verkehrsbetriebe in die Röhre. Drei Beispiele, die Zweifel aufkommen lassen an der Ernsthaftigkeit der Bemühungen.

Gefragt wäre nun zum einen ein rasch umsetzbares Konzept zur Stärkung und zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs abseits der Straße. Parallel dazu gehören die Planungs- und Genehmigungsverfahren für solche Vorhaben auf den Prüfstand. Die Schiene hinkt auch deshalb den Bedürfnissen hinterher, weil es von der Idee bis zur Inbetriebnahme viel zu lange dauert – jüngst in Stuttgart beim Flughafenanschluss der Stadtbahn zu besichtigen. Und zu guter Letzt braucht es viel Geld sowie die Einsicht, dass neue Nahverkehrswege ihre Spuren in Feld, Wald und Flur hinterlassen. So viel Ehrlichkeit gehört zum Betrachten der Wirklichkeit dazu.