Im deutschen Handwerk sind die Hürden für Neugründungen hoch: meist ist der Meisterbrief nötig. Die EU will Transparenz beim Berufszugang schaffen. Im Handwerk fürchtet man, dass andere Staaten das nutzen wollen – um den Meisterzwang abzuschaffen.

Brüssel - Es ist schon ein gutes Jahr her, dass der Stein ins Wasser geworfen wurde. Anfang Oktober 2013 veröffentlichte die EU-Kommission eine Mitteilung über die „Bewertung der nationalen Reglementierungen des Berufszugangs“. Solche Mitteilungen, die noch keine konkreten Gesetzesvorschläge, sondern nur Absichtserklärungen oder Aktionspläne sind, gehen in der Flut des Brüsseler Politikbetriebs gern einmal unter.

 

Zumal die Behörde nur nach Auftrag und in guter Absicht handelte. Schon der EU-Gipfel im Juni 2012 beschloss als weitere Anti-Krisen-Maßnahme einstimmig, also auch mit Unterstützung der deutschen Kanzlerin, „eine strikte gegenseitige Begutachtung der nationalen Beschränkungen und rasches Handeln, um ungerechtfertigte Hindernisse zu beseitigen“. Ein Jahr später verständigten sich das Europaparlament und alle Mitgliedstaaten auf eine Änderung der bereits existierenden EU-Richtlinie, welche die gegenseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen regelt.

Zunächst sind Bauingenieure und Architekten dran

Alle Länder sind damit verpflichtet, ihre Vorschriften zu überprüfen und zu modernisieren. „Ein flexiblerer und transparenter Rechtsrahmen“, so die Hoffnung des Gesetzgebers, „würde die Mobilität qualifizierter Fachkräfte innerhalb des Binnenmarkts und die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen der freien Berufe erleichtern.“ Die Angleichung, heißt es weiter im Papier der EU-Kommission, das lediglich eine konkrete Vorgehensweise vorschlug, „dürfte sich auch positiv auf die Beschäftigungslage auswirken“.

Und so nehmen die Mitgliedstaaten inzwischen die europaweit insgesamt 5427 Bestimmungen zu reglementierten Berufen unter die Lupe. Nach und nach sind, einem gemeinsamen Zeitplan folgend, verschiedene Berufsgruppen an der Reihe – seit vergangener Woche werden die Qualifikationsvoraussetzungen für Bauingenieure und Architekten genauer inspiziert. Ende November folgt dasselbe Prozedere für Augenoptiker und Elektrotechniker. Anfang 2016 soll die  Prozedur abgeschlossen sein. Dann will die Brüsseler Kommission eine Europakarte der reglementierten Berufe veröffentlichen, die den Arbeitssuchenden in Europa die nötigen Informationen liefern und damit den Berufseinstieg in einem anderen Land erleichtern soll.

Ein Chirurg sollte Medizin studiert haben

Tatsächlich sind die beruflichen Zugangsbeschränkungen in den verschiedenen EU-Staaten sehr unterschiedlich und die Gründe hierfür nicht immer nachvollziehbar. In Litauen, wo es im Zuge der Finanzkrise eine Reihe radikaler Reformen auf dem Arbeitsmarkt gegeben hat, sind es mit 72 am wenigsten. In Frankreich dagegen müssen Neueinsteiger auf insgesamt 220 Berufsfeldern bestimmte Qualifikationen vorweisen – in Polen sind es sogar 374. Deutschland, das im Zuge der Hartz-Reformen bereits viele Zugangsregeln gelockert oder abgeschafft hatte, steht mit 140 reglementierten Berufen im europäischen Vergleich ganz gut da.

Immer geht es bei der Überprüfung um drei Kernfragen: Dient die Zugangsbeschränkung dem allgemeinen gesellschaftlichen Interesse? Diese Frage ist im Falle eines Chirurgen leicht mit Ja zu beantworten. Wer etwa wollte, dass er oder sie nicht Medizin studiert hat? Zweitens wird untersucht, ob die Beschränkung – meist im Sinne des Verbraucherschutzes – noch zeitgemäß und verhältnismäßig ist oder der Zweck auch mit weniger Vorschriften zu erreichen wäre? Und werden, drittens, EU-Bürger anderer Staaten diskriminiert, weil ein bestimmter Beruf ihnen gar nicht offen steht, da sie eine bestimmte Ausbildung nicht durchlaufen haben können?

Der Meisterzwang hat im Ausland wenig Freunde

Gerade diese Frage lässt in Deutschland jedoch die Alarmglocken schrillen – vor allem im Handwerk. Denn obwohl unter Rot-Grün in den Nullerjahren für insgesamt 53 Berufe, etwa den des Fliesenlegers, der Meisterzwang abgeschafft wurde, existiert er für 41 Berufe weiter fort – von A wie Augenoptiker über G wie Gerüstbauer bis Z wie Zahntechniker. Will ein Dienstleister aus dem Ausland hierzulande Aufträge in diesen Bereichen annehmen, muss er entweder eine gleichwertige Ausbildung oder eine mehrjährige Berufserfahrung nachweisen. In Deutschland eine Niederlassung zu gründen, sich also unternehmerisch selbstständig zu machen, ist für EU-Ausländer ohne Meisterbrief in diesen 41 Berufen aber überhaupt nicht möglich.

Die Transparenzinitiative weckt deshalb Begehrlichkeiten, auf dass es nicht bei mehr Transparenz bleibe. „Da es innerhalb Europas nur in Österreich und der Schweiz eine dem deutschen Meisterbrief vergleichbare Fortbildung gibt, sind grundsätzlich alle anderen EU-Länder am Wegfall der deutschen Meisterpflicht interessiert“, teilt etwa die rheinland-pfälzische Landesregierung mit, die das Thema bei einem Besuch in Brüssel kürzlich wieder zur Sprache brachte. „Das größte Interesse“ bestehe, heißt es, „in wirtschaftlich schwachen Ländern Ost- und Südeuropas“.

Die EU-Kommission bestreitet, dass es dem Meisterbrief an den Kragen gehen soll. Es gebe „keinerlei Pläne, die deutsche Handwerksordnung aufzuheben“, teilte sie im Frühjahr mit – weder mit der Transparenzinitiative noch mit einem entsprechenden Gesetzesvorschlag. Wirklich beruhigen konnte das die Gemüter aber nicht, weil in derselben Pressemitteilung auf frühere Reformempfehlungen für Deutschland in Bezug auf den Meisterbrief verwiesen wurde. Demnach „könnte Deutschland prüfen, ob diese Anforderung in allen Fällen weiterhin gerechtfertigt ist“. Speziell erwähnt wird dabei das Baugewerbe, wo es „Einschränkungen im Hinblick auf Werbung und Zulassungsverfahren“ gebe.

Die Jugendarbeitslosenquote ist niedrig

Und so ist in den vergangenen Monaten ein regelrechter Kampf um den Meistertitel entbrannt – auch weil unklar ist, ob seine Abschaffung eine reale oder nur eine eingebildete Gefahr ist. Zumindest will es in Deutschland kaum einer darauf ankommen lassen, weil das duale Ausbildungssystem als ein Garant für die im europäischen Vergleich mit gut sieben Prozent niedrigste Jugendarbeitslosenquote gesehen wird. „Die EU-Kommission setzt“, so die Angst des Zentralverbands des deutschen Handwerks (ZDH), „dieses erfolgreiche System des deutschen Handwerks aufs Spiel.“

Und daher vergeht seither kaum ein Brüssel-Besuch eines zuständigen Landesministers oder eine Handwerksveranstaltung ohne das entsprechende Bekenntnis zum Meisterbrief und dessen Bedeutung für die Ausbildung. Bei einem Gespräch mit EU-Kommissar Laszlo Andor beispielsweise verwies Baden-Württembergs Wirtschaftsminister Nils Schmid darauf, dass die Ausbildungsquote laut Statistischem Bundesamt in den seit 2004 zulassungsfreien Handwerken viel geringer ist. Das Verhältnis von Auszubildenden zu Beschäftigten liegt dort nur noch bei 4,7 Prozent – in den Meisterberufen sind es zwölf Prozent. Und seine rheinland-pfälzische Kollegin Eveline Lemke von den Grünen berichtete dem Kommissionsspitzenbeamten Pierre Delsaux kürzlich, dass sich die Zahl der Lehrlingsverträge in zulassungsfreien Berufssparten als Folge der Liberalisierung unter Rot-Grün bis 2012 um 24,1 Prozent verringert habe.

Viele machen schnell wieder zu

Als Negativbeispiel schlechthin gilt das Fliesenlegerhandwerk. Seit dem Wegfall des Meisterzwangs hat sich etwa in Baden-Württemberg die Zahl der Betriebe von 1906 auf 6628 und damit um das Dreieinhalbfache vergrößert (Stand Ende 2012), wie die Landesregierung im Frühjahr 2013 mitteilte; seitdem ist die Gesamtzahl auf 7028 Gestiegen (Stand 30. Juni 2014). Hinter diesem Trend stehen jedoch sehr viel mehr Neugründungen, denn 15 Prozent der neuen Betriebe machen binnen Jahresfrist bereits wieder dicht – im Vergleich zu fünf Prozent bei den regulierten Berufen. Entsprechend groß ist die Gefahr, dass es bei Gewährleistungs- und Schadenersatzansprüchen der Kunden zu Forderungsausfällen kommt.

Gelackmeiert wäre der Kunde nach Ansicht der Meisterbriefverfechter auch in seiner Eigenschaft als Steuerzahler. „Würden wir den Kammerzwang abschaffen“, sagt der FDP-Europaabgeordnete Michael Theurer, „müsste der Staat die Ausbildung mittels Steuergeldern und Beamten übernehmen – das können wir nicht wollen.“ Immerhin lassen sich deutsche Firmen die Ausbildung des eigenen Nachwuchses rund 27 Milliarden Euro im Jahr kosten.

Der Sozialkommissar ist für das deutsche Modell

Für den Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) ist daher klar, dass „der Meisterbrief für mich und die Bundesregierung nicht zur Disposition steht“. Er stelle eine Erfolgsgeschichte dar, „die wir eher anderen vermitteln sollten, als sie in Deutschland selbst aufzugeben“. Nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ plädiert auch Theurer dafür, den vermeintlichen Angriff auf das duale System nicht nur abzuwehren, sondern auch in der EU zu vermarkten: „Wir sollten daraus ein europäisches Modell machen.“ Der Weg dorthin aber ist weit – auch weil für Ausbildung und Arbeitsmarktzugang die Mitgliedstaaten zuständig sind. Ein EU-Meisterbrief wäre wohl nur nach Änderung der EU- Verträge möglich.

Im Zuge ihrer Wirtschaftskrise interessieren sich gleichwohl immer mehr Staaten der Gemeinschaft für das deutsche Modell – bei Ministertagungen, Konferenzen oder Vor-Ort-Besuchen. Die Brüsseler Kommission sieht das selbst interessanterweise genauso – auch wenn die entsprechende Mitteilung aus dem Jahr 2012 „nur“ von Sozialkommissar Laszlo Andor und nicht aus der Generaldirektion Binnenmarkt stammt, die sich an die Überprüfung der regulierten Berufe gemacht hat: „Die Erfahrung zeigt, dass junge Menschen in Ländern mit dieser Ausbildungsform bessere Aussichten auf einen reibungslosen Übergang von der Schule ins Berufsleben haben.“