Die Evangelische Gesellschaft organisiert einen Besuchsdienst für Migranten, die an Demenz leiden. Die Ehrenamtlichen kommunizieren in der Sprache des Herkunftslands mit den älteren Menschen. 20 Besucher sind bereits an Familien vermittelt worden.

Stuttgart - Jede Woche kommt Maria Schörger einmal zu Asghar Mohammadian auf die Gänsheide. Der 86 Jahre alte Iraner steht immer schon am Küchenfenster, wenn die Besucherin kommt. Manchmal wartet er nur wenige Minuten, manchmal eine lange Zeit. Auch der traditionelle persische Schwarztee ist gekocht, wenn Maria kommt, und das Backgammonspiel steht auf dem Tisch bereit. Asghar Mohammadian leidet seit einem Schlaganfall vor zwei Jahren an Demenz. Marias Namen kann er sich nicht mehr merken, aber er weiß, dass er sich freuen kann, wenn sie kommt.

 

Was Schörger und Mohammadian verbindet, ist die türkische Sprache. Maria Schörger ist in Istanbul geboren, Asghar Mohammadian stammt aus der iranischen Region Aserbaidschan. Türkisch ist die Sprache seiner Kindheit, die ihm noch nicht verloren gegangen ist. Auch an diesem Vormittag sitzen die beiden am Tisch in der geschmackvoll gefliesten Küche, versunken in eine Partie Backgammon.

Die Evangelische Gesellschaft organisiert die Besuche

Zusammengebracht hat die beiden die Evangelische Gesellschaft (Eva), die vor zwei Jahren ProMi, einen Besuchsdienst für demenzkranke Migranten, eingerichtet hat. Die Idee ist, dass Ehrenamtliche mit Migrationshintergrund ältere Migranten mit Demenz oder Depression regelmäßig besuchen. „Die ehrenamtlichen Migranten haben über die gemeinsame Sprache und Kultur einen ganz anderen Zugang zu den   dementen Menschen“, sagt Günther Schwarz von der Eva. 20 Paare haben Schwarz und sein Kollege Georg Hegele bereits zusammengebracht. Sie sprechen türkisch, italienisch, griechisch, russisch, serbokroatisch und chinesisch miteinander.

„Wir haben viele Ehrenamtliche, die gegen eine Aufwandsentschädigung bereit sind, einen Besuchsdienst zu übernehmen. Schwieriger ist es, an die dementen Menschen heranzukommen“, stellt Schwarz fest. Für die Familien der Betroffenen sei es eine große Überwindung, sich Hilfe zu holen. „Die Angehörigen fühlen sich noch mehr als deutsche Familien verpflichtet, den dementen Menschen selbst zu versorgen und gehen noch mehr an ihre Grenzen“, sagt der Demenzexperte Schwarz. Zudem täten sich die zugewanderten Familien schwerer, Hilfsangebote zu finden. „Wir haben zwar alle Migrantenvereine in Stuttgart kontaktiert, aber wir merken, dass sie unseren Besuchsdienst dann im konkreten Fall doch nicht auf dem Schirm haben.“ Finanziert wird das Projekt noch ein weiteres Jahr aus Mitteln der Robert-Bosch-Stiftung und der Stiftung des Landes Baden-Württemberg.

Die Töchter haben Asghar Mohammadian hergeholt

Azar Baumann ist froh über den regelmäßigen Besuch. Die 54-Jährige war es, die zusammen mit ihrer Schwester Farideh Gossmann vor vier Jahren ihren Vater Asghar Mohammadian nach Stuttgart geholt hat. „Wir haben gesehen, dass er in seiner Wohnung in Teheran nicht mehr alleine zurechtkam.“ Der Vater weinte stundenlang am Telefon, die Töchter hatten Angst, wenn der Vater sich alleine in Teherans Straßen bewegte. Jetzt lebt er sicher im Haus seiner Tochter Farideh Gossmann, aber in einem Land mit Menschen, deren Sprache er nicht versteht.

Mit der beginnenden Demenz ist es für die Töchter schwieriger geworden, den alten Herrn zu betreuen. An guten Tagen macht der frühere Schreiner und Geschäftsinhaber noch immer Streifzüge durch Stuttgart, isst Kebab in türkischen Imbissen, setzt sich auf Parkbänke, schaut den Menschen zu und findet auch wieder nach Hause. An schlechten Tagen aber fragt er sich, welchen Sinn es für ihn hat, in einem ihm fremden Land zu leben. Heute aber ist ein guter Tag, und Asghar Mohammadian versichert: „Meine Kinder sind bei mir, was soll ich vermissen?“ Er schwärmt auf Persisch von der Freiheit der Menschen in Deutschland, von dem Land, in dem es keine politische Verfolgung gibt. Seine Tochter Azar Baumann übersetzt. Aber ein wenig wundere er sich doch. „Alle Häuser sind leer, es gibt so wenig Kinder, niemand sitzt und niemand spielt auf der Straße.“

Azar Baumann erzählt von der anderen Seite ihres Vaters. Davon, dass er nicht mehr malt, weil seine Hände zittern und seine Augen nicht mehr gut sehen. Dass er immer schneller müde wird. Davon, dass er nicht mehr zu der Gruppe Iraner geht, die sich jeden Donnerstag auf Initiative von Azar Baumann bei der Eva zum Tee trifft, weil er den Gesprächen nicht mehr folgen kann. Seine Tochter erzählt davon, dass er alle Namen im Nebel verliert.

Deutsche Vokabeln bleiben nicht im Gedächtnis

Auch die deutschen Wörter vergisst Asghar Mohammadian sofort wieder, die Maria Schörger mit ihm lernt. Denn nach dem Backgammonspiel sitzen die beiden oft zusammen. Mohammadian sagt, welches deutsche Wort er gerne lernen möchte, Schörger schreibt es ihm auf und spricht es vor. „Beim nächsten Treffen üben wir dieselben Wörter wieder“, erzählt die gebürtige Armenierin, die seit 40 Jahren in Deutschland lebt. Asghar Mohammadian ist auch sein Englisch wieder abhandengekommen, das er in den Jahren bei seinem Sohn in Kanada perfekt gesprochen hat. Geblieben ist ihm das Türkische.

Auf Türkisch erzählt Mohammadian Maria Schörger von seiner Kindheit in Aserbaidschan, von der Zeit des Schahs in Persien, von der Liebe zu seiner Frau, die er in den Monaten vor ihrem Tod gepflegt hat. Maria Schörger kennt die Geschichten, aber sie lässt es sich nicht anmerken. „Ich höre zu, das ist am besten. Wenn ich von mir erzähle, wird er schnell müde.“ Sie kommt gerne, jede Woche. Warum? „So viel Dankbarkeit erfahre ich sonst nirgendwo.“