Wie ist die Lage in Istanbul wenige Tage nach dem gescheiterten Putsch? Beobachtungen eines Exil-Stuttgarters, der nach den tieffliegenden Militärjets über seinem Balkon Angst vor einer tiefen Spaltung der türkischen Gesellschaft hat.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Istanbul - Eigentlich hätte diese Geschichte ganz anders erzählt werden sollen. Ein Kulturwissenschaftler aus Stuttgart, der seit Jahren in Istanbul lebt, hatte sich vor dem Putsch gegenüber der StZ dazu geäußert, wie sicher er sich am Bosporus fühlt, obwohl in drei Anschlägen seit Januar sechzig Menschen getötet und über zweihundert verletzt wurden. Der Kulturwissenschaftler hatte den Umgang der Istanbuler mit der permanenten Krisensituation gelobt – er habe dabei Gelassenheit gelernt. Darüber hinaus lobte er die Rolle der Künstler in Istanbul: Im Gegensatz zu Journalisten beispielsweise könnten sich bildende Künstler viel offener mit dem System auseinandersetzen, weil die Politik die Bedeutung der bildenden Künste als sehr gering einschätze.

 

Nach dem Putschversuch ist aber plötzlich alles anders.

Der Kulturwissenschaftler will sich nun gar nicht mehr äußern. Auch Tage nach dem gescheiterten Putsch sei die Lage noch so unübersichtlich, dass er zum ersten Mal in Istanbul Angst habe. Auch der ehemalige VfB-Spieler Andreas Beck, der soeben mit Besiktas Istanbul Meister wurde, möchte nichts sagen.

Moritz Marwein hatte sich in seiner Abschlussarbeit mit den Gezi-Protesten beschäftigt

Der Einzige, der zu reden bereit ist, ist Moritz Marwein. Der Sohn des grünen Landtagsabgeordneten Thomas Marwein hat in Stuttgart und Istanbul Architektur studiert. In seiner Abschlussarbeit beschäftigte er sich mit den Gezi-Protesten. Bei den Demonstrationen auf dem Taksim-Platz gegen ein Bauvorhaben war er 2013 selbst von Tränengas getroffen worden. Er blieb in Istanbul, um mit seiner Partnerin Aylin Erman den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Gemeinsam versuchen sie, den Istanbulern unter dem Label „Jüs“ gesunden Saft zu verkaufen.

Immer wieder hatten Moritz Marwein und Aylin Erman im vergangenen Jahr überlegt, wie zukunftsträchtig es ist, im Istanbul dieser Tage eine Existenz aufzubauen. „Trotz der ganzen Anschläge des vergangenen Jahres haben wir uns nie wirklich unsicher gefühlt. Das ist jetzt zum ersten Mal anders.“ Wegen des Putschversuchs vom vergangenen Wochenende, den sie gemeinsam mit Freunden erlebt haben. „Wir hatten mit einem deutschen Freund gegen 22 Uhr unser Haus im Stadtteil Cihangir verlassen, um in einem Café um die Ecke etwas trinken zu gehen“, erzählt Marwein. „Direkt nachdem wir bestellt hatten, bekamen wir einen Anruf von einer türkischen Freundin, dass die Brücken geschlossen wurden und es wohl zu einem Putsch kommt“, so Marwein weiter. „Zehn Minuten nachdem unser Bier kam, wurden wir vom Kellner aufgefordert, schnell nach Hause zu gehen.“

Über Seitenstraßen nach Hause, als die Ausgangssperre ausgesprochen war

Doch dahin ging die kleine Gruppe nicht, sondern zu einer Freundin, die in der Nähe des Cafés lebt. „Dort waren schon ungefähr zehn unserer Freunde, hauptsächlich Türken. Wir haben gemeinsam die Nachrichten im Fernsehen verfolgt. Ich bin dann noch mal gegen 24 Uhr aus dem Haus, um Bier für alle in einem Laden in der Straße zu kaufen. Dort kam es schon zu Hamsterkäufen. Die Leute haben sich mit Nudeln, Reis und Wasser eingedeckt. Als sich Erdogan dann über Facetime beim Sender CNN Turk gemeldet und das Volk auf die Straße gerufen hat, sind wir vom Schlimmsten ausgegangen.“

Während man von Stuttgart aus den versuchten Umsturz über die sozialen Medien und diverse Nachrichtenkanäle aus sicherer Distanz verfolgen konnte, war Moritz Marwein mittendrin im Geschehen. „Da wir in einem relativ sicheren Viertel nur wenige Minuten von unserer Freundin entfernt leben, sind wir gegen zwei Uhr, ohne zu wissen, ob die Ausgangssperre noch aktiv ist, nach Hause gegangen. Dabei haben wir versucht, über Seitenstraßen und im Schatten der Bäume zu laufen. Die ersten Helikopter und Kampfjets flogen zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich tief über der Stadt“, so Marwein.

Vom Balkon aus wirkte es, als würden die Jets Bomben abwerfen

Den Rest der Nacht verbrachte Marwein auf seinem Balkon, von dem aus man auf den Bosporus schauen kann. „Die Jets, die die Schallgrenze direkt über der Stadt gebrochen haben, waren extrem laut und nah. Wir dachten, dass sie Bomben abwerfen. Ich habe fünf Jets gezählt und mehrere Militärhelikopter im Tiefflug über dem Bosporus gesehen. Von der Bosporus-Brücke und aus der Richtung des Taksim-Platzes waren über Stunden Schüsse zu hören.“

Am Montag nach den geschilderten Ereignissen wirkt Moritz Marwein noch immer geschockt. Wie geht es nun für ihn und seine Freundin Aylin in Istanbul weiter? „Alle unsere türkischen Freunde wollen jetzt das Land verlassen. Die häufigste Google-Anfrage zur Zeit ist die, in welches Land Türken am leichtesten einreisen und wo sie am besten arbeiten können.“ Auch viele unserer ausländischen Bekannten schmieden Pläne, die Türkei zu verlassen. Grundsätzlich ist die Angst vor einer tieferen Spaltung der Gesellschaft groß.“

Abwarten bis zum Ende des Jahres,wie sich die Situation weiter entwickelt

In den aktuellen Demonstrationen der konservativen Bevölkerung sieht Moritz Marwein einen Gegenentwurf zu den Gezi-Protesten von 2013, „die damals eher aus der liberalen laizistischen Bevölkerungsschicht kamen. Die Gefahr ist groß, dass dadurch jetzt das Wir-gegen-die-Gefühl weiter erstarkt.“

Letzter Anruf bei Marwein am Mittwoch. Der Entrepreneur wirkt wieder gefasster: „Falls sich die Situation nicht bis Ende des Jahres stabilisiert, müssen wir schauen, was wir uns persönlich, aber auch geschäftlich zumuten können. Wir werden jetzt aber erst mal einfach ganz ,türkisch’ abwarten und Tee trinken“, so Marwein, und weiter: „Im Moment hoffen wir darauf, dass Erdogan einen Prozess der nationalen Einheit einleitet. Er ist der Einzige in der Türkei, der dazu imstande ist.“