Unser Redakteur George Stavrakis und seine britische Frau Simone Louis verstehen nach der Brexit-Entscheidung die Welt nicht mehr. Für sie hat das Votum ganz persönliche Konsequenzen.

Stuttgart/London - Der Schock sitzt tief, der Unglaube an das, was am vergangenen Donnerstag geschehen ist, hält an. „We are out, I don’t believe it“, sagt meine Frau, die Britin, als sie das Ergebnis am frühen Freitagmorgen hört. Ich für meinen Teil hatte ja mit einer knappen Entscheidung gerechnet – aber eben gerade andersherum. Und was bedeutet das jetzt? Plötzlich bin ich mit einer Frau verheiratet, die bald keine EU-Bürgerin mehr ist. Fliegt sie jetzt aus dem Land? Brauche ich jetzt ein Visum, wenn ich die Familie in London besuche? Und ganz pragmatisch: Soll ich jetzt haufenweise britische Pfund horten, jetzt, wo es auf einmal so billig ist?

 

Meine Frau ruft ihre Schwester Carmen in London an. „Oh my God.“ Deren Mann Jack hat mir schon eine Textnachricht geschickt: „Oh my God. We are alone in the world now. God help the UK.“ Jack ist nicht besonders gläubig – außer, wenn es um seinen Premier-League-Club Arsenal FC geht. Aber „Oh my God“ ist das Häufigste, was meine Frau und ich am Tag nach dem Brexit und übers ganze Wochenende hören. Ihre Familie lebt in Nord-London, und London hat zu 75 Prozent für Remain, also fürs Drinbleiben gestimmt. Unsere London-Family ist stinksauer. Sie vergleicht den ehemaligen Londoner Bürgermeister und Brexit-Befürworter Boris Johnson mit US-Präsidentschaftsanwärter Donald Trump – und nicht nur wegen der Frisur.

Erschüttert über Votum der Älteren

Carmen und Jack führen eine mittelständische Firma mit etlichen Auslandskontakten. Sie haben keine Ahnung, was auf sie zukommt. Was sie am meisten erschüttert: Vornehmlich die älteren Briten, die von der angeblich guten alten Zeit und dem untergegangenen britischen Empire träumen, haben für den Brexit gestimmt. „Und die Jungen können das jetzt jahrzehntelang ausbaden“, schimpft Carmen. Meine Frau stimmt zu und prognostiziert, dass aus Great Britain Small Britain werden wird – spätestens dann, wenn sich die Schotten aus dem Vereinigten Königreich verabschieden. Sie schimpft aber auch auf die EU und ihre Kommissare. „Die fällen merkwürdige Entscheidungen und erklären den Leuten nicht, für was das gut sein soll.“ Warum beispielsweise darf unser Staubsauger bald keine 1200 Watt mehr haben? Muss man dann länger saugen? Soll das etwa Strom sparen? Und überhaupt: Wir bezahlen den Strom doch, oder?

Meine Frau kommt das ganze Wochenende nicht vom Telefon los. Ihre ältere Schwester Carol ruft an: „Oh my God.“ Als Nächstes hängen Anna und Vanessa an der Strippe. Die beiden haben eine Reiseagentur in London und befürchten nun das Schlimmste. Unser Besuch aus Arizona versteht die ganze Aufregung nicht. „Brexit? Nie gehört. Was ist das?“

Der Brexit trifft uns allerdings nicht ganz unvorbereitet. Vor vier Wochen hat meine Frau ihren Einbürgerungstest bestanden. Wenn alles klappt, ist sie in absehbarer Zeit wieder EU-Bürgerin. Und überhaupt: Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Mein Schwager Jack schickt die nächste Textmeldung. Er könne es immer noch nicht fassen. Und wenn jetzt auch noch England im EM-Viertelfinale gegen Island verlieren sollte . . . . . . „Oh my God.“