Das erste Mal seit 1975 hat Stuttgart die magische Zahl von 600.000 Einwohnern geknackt. Ein Grund: Die in diesem Jahr angekommenen Flüchtlinge werden statistisch auch als Stuttgarter erfasst.

Stuttgart - Der seit 15 Jahren zu beobachtende Anstieg der Einwohnerzahlen hält auch 2015 an. Nach der jüngsten Fortschreibung des Statistischen Amts der Stadt sind in Stuttgart erstmals seit 1975 wieder mehr als 600 000 Menschen registriert. Der Höchststand resultiert aus dem Jahr 1962 mit 640 000 Einwohnern. Ende Oktober 2015 waren exakt 601 045 Bürger gemeldet, das sind 8146 Personen mehr als im Vorjahr. Die „natürliche Einwohnerentwicklung“ hat dabei einen vergleichsweise geringen Anteil: 5348 Geburten stehen 4768 Sterbefälle gegenüber – ein Überhang von 580 Einwohnern. Im gesamten Vorjahr waren es 914. Die bedeutsamste Ursache für den rasanten Bevölkerungsanstieg sind wie in den Vorjahren die „Wanderungsgewinne“ – und das, obwohl mehr Deutsche weg- als zugezogen sind (minus 1851). Weil aber unterm Strich ein Plus von 9417 Ausländern bleibt, ergibt sich ein positiver Saldo von 7566 Bürgern. Etwa ein Drittel davon sind Flüchtlinge. Ihre Zahl stieg seit Januar von 2600 auf rund 6000.

 

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Auch wenn die meisten Flüchtlinge in Stuttgart (noch) nicht anerkannt sind, sondern als Asylbewerber in Behelfsunterkünften wie Turnhallen und Containern untergebracht sind, fanden sie Aufnahme im städtischen Melderegister. Die Statistiker in Stadt und Land tun sich schwer damit, ihre Listen korrekt zu führen. Kommunen mit Landeserstaufnahmestellen, in denen Flüchtlinge erstmals registriert werden sollen und in denen ein ständiges Kommen und Gehen herrscht, seien anfällig für „verfahrensbedingte Schwankungen in der amtlichen Bevölkerungsfortschreibung“. Die Stadt Stuttgart ist aber willens, alle Flüchtlinge in den Erstaufnahmeeinrichtungen in ihre Kartei aufzunehmen.

Viel Bewegung auf dem Wohnungsmarkt

Das Statistische Landesamt weist deutlich höhere Zahlen als die der Stuttgarter Kollegen aus: Ende 2014 lebten demnach 612 441 Menschen in der Landeshauptstadt. Die Stadtverwaltung hatte damals nur 592 893 Namen im Melderegister. Diese Differenz war vor dem Abgleich mit den beim Zensus 2011 erhobenen Daten aber noch doppelt so groß gewesen. Die landesamtlichen Statistiker strichen Stuttgart damals 22 681 Bürger. Die Ungenauigkeiten resultieren vor allem daher, dass sich viele ins Ausland verzogene Bürger nicht abmelden. Wichtig für den kommunalen Finanzausgleich ist die Bevölkerungszahl am 30. Juni: Darauf erfolgt die Verteilung der Einkommensteuer. Thomas Schwarz vom Statistischen Amt hat 2014 die Bevölkerungsentwicklung bis 2030 prognostiziert und kam „bei anhaltend hoher Zuwanderung“ auf rund 616 000 Bürger. Damit ist aber nicht der starke Zuwachs an Flüchtlingen gemeint gewesen. Berücksichtigt hat er auch nur die „planerisch abgesicherte Bautätigkeit“ von 1800 Wohnungen jährlich, nicht die Forderungen nach bis zu 8000 Wohnungen. Die Statistik weist auch eine starke Bewegung auf dem Wohnungsmarkt aus. In diesem Jahr gab es 51 000 Zu- und 43 300 Wegzüge. Anders ausgedrückt: Vaihingen wurde quasi einmal geräumt und neu belegt. Zählt man auch noch die Wohnungswechsel innerhalb Stuttgarts dazu, kommt man auf 100 000 Personen.

Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne) sieht daher auch trotz der gestiegenen Einwohnerzahl keinen Grund, vom Grundsatz der Innen- vor Außenentwicklung bei der Stadtentwicklung abzuweichen. Neue Quartiere auf der grünen Wiese lehnt Pätzold ab. Stuttgart sei „nicht auf dem Weg zu einem Moloch“, so Pätzold. Es müsse schon aus topografischen Gründen ein „ausgewogenes Verhältnis“ zwischen Bebauung und Freiflächen gewährleistet bleiben.

Unterschiedliche Reaktionen aus dem Gemeinderat

Der CDU-Fraktionschef Alexander Kotz wiederholt seine Forderung nach einer Diskussion über die Entwicklung der Stadt bis 2030. Ein wichtiger Teil davon sei die Frage, welche Einwohnerzahl man anstreben wolle. „Daraus leiten sich viele weitere Punkte wie Infrastruktur, Bildungseinrichtungen, Freizeiteinrichtungen, Arbeitsplätze und natürlich auch das Angebot an Wohnraum ab“, so Kotz. Sein Fraktionsvize Philipp Hill hatte kürzlich in der StZ ebenfalls eine rasche Debatte über die Grenzen des Wachstums gefordert und betont, man könne „nicht jeden Bedarf befriedigen“.

Die Grünen-Fraktionsspitze weist darauf hin, dass Stuttgart im Vergleich zu München oder Hamburg eine deutlich höhere Siedlungsdichte aufweise. Dort könne Wohnraum auf einer deutlich größeren Fläche geschaffen werden. Für den Fraktionschef von SÖS-Linke-Plus, Hannes Rockenbauch, ist das Problem nicht der Zuzug, sondern der gestiegene Flächen- und Ressourcenverbrauch pro Einwohner: „In den 1960er Jahren haben mehr Menschen auf weniger Fläche zusammengelebt.“ Neubauquartiere auf Freiflächen seien keinesfalls die Alternative. Rockenbauch kritisierte in diesem Zusammenhang den „mangelnden Steuerungswillen“ der Rathausspitze beim Wohnungsbau. Auch bei der sozialen Infrastruktur sei die Personalstärke viel zu knapp bemessen.

Der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Martin Körner, freut sich über den Zuzug: „Stuttgart bietet viel Lebensqualität. Deshalb kommen viele Menschen zu uns.“ Eine Obergrenze bei den Einwohnern lässt sich laut Körner nicht verordnen: „Wir schaffen das, wenn wir genügend bezahlbare Wohnungen bauen.“ Sonst werde Stuttgart immer mehr zu einer Stadt, die sich „nur die Reichen und Schönen leisten können“. Zugleich müsse das ÖPNV-Angebot verbessert und die Integration durch Sprachkurse vorangetrieben werden.