Oberkochen im Ostalbkreis entvölkert sich schneller als andere Städte in Baden-Württemberg. Die Folgen sind teilweise drastisch.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Oberkochen - Wenn Wohlstand wirklich Wachstum braucht, ist es um Oberkochen schlecht bestellt. Seit Jahren schrumpft die Stadt, von früher fast 10 000 Einwohnern im Jahr 1968 bis auf aktuell 7740 Köpfe. Bis 2030, das sagt die Prognose, beginnt die Einwohnerzahl wohl mit einer Sechs. Trübsal im Kochertal, das könnte ein passender Reim zur Lage sein.

 

Das Tal selber ist aber ganz bezaubernd, sogar von der Bundesstraße aus betrachtet. Dampf steigt vom Fluss Kocher auf, gerät in morgendliche Sonnenstrahlen und verglitzert über frostweißen Uferwiesen. Bald wird der Blick eingeengt, die Fahrt geht vorbei an „Klein-Dubai“, wie die Oberkochener sagen, einem von riesigen Kränen überragten Baufeld, auf dem der größte Arbeitgeber der Stadt für 400 Millionen Euro gerade neue Medizintechnik- und Halbleiterfertigungsgebäude baut. Gleich darauf taucht der dunkel verglaste Büroturm der Carl Zeiss AG auf, gleichsam Wahrzeichen dieser Stadt, die längst nur noch Gemeindegröße hat.

Sollte Oberkochen irgendwann zum Dorf regredieren, wäre es mit Gewerbesteuereinnahmen in zweistelliger Millionenhöhe eines der reichsten überhaupt. Aber so weit wird es nicht kommen – sagt der parteilose Bürgermeister Peter Traub: „Wir werden uns auf niedrigerem Niveau stabilisieren.“

Der Bürgermeister hat sein Stahlbad schon erlebt

Die Klage vom Niedergang ist dem 1993 gewählten Rathauschef nicht fremd. Von seinem Büro im zweiten Stockwerk des frisch sanierten Rathauses aus kann er große Teile seiner Stadt übersehen. Als Zeiss 1994 in schweren Turbulenzen schwankte, als viele Beschäftigte ihren Job verloren und die Angst vor der Werksschließung umging, da erlebte Traub sein persönliches Stahlbad. Zeitungen hätten von Arbeitslosen geschrieben, die tagsüber verzweifelt und betrunken in den Kneipen säßen, so erinnert er sich. Reporter des TV-Senders Arte kündigten ihr Kommen an und baten um ein Interview. „Ich habe denen gesagt, wenn Sie wegen betrunkener Arbeitsloser kommen, dann muss ich Sie enttäuschen. Die gibt es hier nicht. Daraufhin haben die sich nie wieder gemeldet.“

Die wirtschaftliche Katastrophe für die Stadt war zehn Jahre später gründlich abgewendet, aber der schleichende Ausblutungsprozess bereitet anhaltende Sorge. „Bis zum Fall der Mauer war Oberkochen die zuzugsstärkste Gemeinde Baden-Württembergs“, sagt Traub. Nach und nach aber stürben die alten, nach dem Zweiten Weltkrieg hergezogenen Zeissianer weg, während die Jungen ausblieben oder Wohnung irgendwo in der Region nähmen, zum Beispiel im nahe gelegenen Aalen.

Das Abwasser fehlt: Die Rohre müssen geputzt werden

Vom Schicksal sich rapide entvölkernder Kleinstädte in Ostdeutschland ist Oberkochen weit entfernt, aber ein Problem der Stadt kennt man doch aus den neuen Bundesländern. Es betrifft die Wasserversorgung. Weil der Rohrdurchfluss im Zulauf inzwischen insgesamt stark zurückging, hat sich die Gefahr der Bakterienbildung erhöht. Das macht teure Desinfizierungen nötig. Abwasserrohre hingegen müssen aus demselben Grund immer wieder künstlich durchgespült werden.

Verlassen liegen viele Häuser aus den 50er Jahren, die niemand haben will, im Stadtgebiet. Der Architekt Bernd Merz sagt: „Nur ganz selten kann ich einen Kunden motivieren, einen Altbestand zu kaufen und zu sanieren.“ Neue Bauplätze aber kann Oberkochen mit seiner prekären topografischen Lage zwischen Bergketten praktisch nicht mehr bieten. Merz ist auch noch Vorsitzender des Gewerbe- und Handelsvereins. Er berichtet, wie in den vergangenen Jahren ein Schreibwarengeschäft, ein Schuhladen und zwei Elektrofachgeschäfte dicht gemacht haben. „Im März hört auch noch ein Fotogeschäft auf“, sagt er.

In der Haupteinkaufsstraße spiegeln sich Passanten in vielen leeren Schaufensterscheiben. Immer wieder wirbt der Gewerbeverein um die großen Innenstadtfilialisten, doch keiner beißt an. „Wir haben einfach das Problem der zu kleinen Ladenflächen“, sagt März. Er setzt darauf, dass die Stadt die letzte Möglichkeit nutzt, ein neues Wohngebiet zu schaffen. „Dann können wir die Bevölkerungszahl vielleicht wenigstens halten.“

Im nahen Wolfertstal soll dieses Gebiet nach dem Willen des Bürgermeisters Traub entstehen. Wohnraum für bis zu 100 Familien hat er vor Augen. Doch es gibt Konflikte mit dem Natur- und Artenschutz, der Gemeinderat kann nicht ohne die Genehmigung übergeordneter Behörden agieren. Bis auf Weiteres bleibt Traub darum versagt, Neubewohner etwa mit niedrigen Baulandpreisen oder speziellen Kinderprämien zu locken. Er wolle das auch nicht, sagt er: „Ich halte nichts davon, sich gegenseitig die Bürger abzukaufen.“

Systematisch investiert die Stadt stattdessen in ihre Bildungseinrichtungen. Von 2007 bis 2009 wurde zum Beispiel das Ernst-Abbe-Gymnasium saniert und ausgebaut, mit einem Forum, neuer Schülerbibliothek und Forschungsräumen, in denen Schüler unter Aufsicht sogar genetische Versuche anstellen können. Zeiss hat kräftig mitfinanziert, auch beim Bau eines städtischen Kinderhauses, das von der Kindergarten- bis zur Schülernachmittagsbetreuung vieles bietet.

Zeiss versucht mit Spenden die Entwicklung aufzuhalten

„Die soziodemografische Entwicklung können Sie nicht aufhalten“, sagt der Zeiss-Konzernsprecher Jörg Nitschke. Allerdings ist ein lebenswerter Standort auch für das Unternehmen wichtig. Zeiss hat einen gemeinnützigen Fonds aufgelegt, über den ein mit Lokalpolitikern besetztes Kuratorium wacht. Aus dem Topf bekamen zuletzt sämtliche weiterführenden Schulen in Aalen und Oberkochen pauschal 1000 Euro zur freien Verfügung. Wer ihn danach frage, so Nitschke, dem sage er stets, dass in Oberkochen die Grundstückspreise günstig und die Freizeit- und Kinderbetreuungsangebote hervorragend seien. „Wo die Mitarbeiter aber am Ende wohnen, ist für uns nicht ganz entscheidend.“

Wie man in kleineren Strukturen überlebt, das beschäftigt auch die 60 Vereine in Oberkochen. Manche, wie der Aquarienclub, haben keine Antwort gefunden und mussten mangels Nachwuchs aufgeben. Größter Verein ist mit 1700 Mitgliedern der TSV Oberkochen. Der Vorsitzende heißt Edgar Hausmann und sieht aus, als wäre er gerade von einer sonnigen Alm heimgekehrt. Er bastelt am Aufbau einer von professionellen Übungsleitern geführten Kindersportschule, holt Mütter mit Kleinkindern ins Montagsturnen und appelliert: „Gerade die Männer joggen meistens irgendwo alleine rum. Die sollen in den Verein gehen, da lernen sie wenigstens, wie man sich richtig dehnt.“

Rezepte sind immer gesucht. Der Gemeinderat hat 2007 ein gebührenfreies Kindergartenjahr eingeführt und 2011 die Grundsteuer auf einen nur noch symbolischen Betrag abgesenkt. Die nächste Großinvestition geht ins betagte Freizeitbad Aquafit. „Das haben wir bisher durchgeschleppt“, sagt der Bürgermeister Traub. Auf dass eines Tages die Kinder vom Wolfertstal in Scharen darin schwimmen.