Innenstadtbewohner erklären Wohl und Übel ihrer Quartiere. Teil eins: Der Pfarrer Eberhard Schwarz führt durch das Hospitalviertel. Neun Uhr abends nennt er „die Zeit der Tag-und-Nacht-Gleiche“. Nicht der einsetzenden Dämmerung wegen, sondern weil sich um diese Zeit das Publikum in der City radikal verändert.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Stuttgart - Der Notruf erreichte Eberhard Schwarz in dunkler Stunde: Es brennt vor dem Bibelmuseum. Der Pfarrer des Hospitalviertels eilte herbei, um festzustellen, dass Haus und Exponate ungefährdet schienen. Obdachlose hatten ein Feuer entfacht, um ihre Glieder zu wärmen. „So etwas ist gut“, sagt der Pfarrer, „Armut muss sichtbar sein, man kann es nicht nur schön haben in der Stadt“.

 

Der Satz ist denkwürdig aus seinem Mund. Schwarz ist Vorsitzender des Forums Hospitalviertel, eines Bürgervereins. Dessen Ziel ist, die Stadt zu verschönern. Aber Schwarz hat nicht Schönheit im Sinne von Makellosigkeit im Sinn. Er steht vor einer Gedenktafel, die ins Pflaster eingelassen ist. Das war seine Idee. Sie erinnert an Johann Valentin Andreae. Der Theologe wurde 1654 im Hospitalviertel beigesetzt. Ins Metall ist der stilisierte Grundriss eines Stadtviertels eingelassen. Andreae „hat versucht, die ideale Stadt zu entwerfen“, sagt Schwarz. Dabei „waren seine Themen die gleichen wie heute: Chancengleichheit, Bildung, Gender, Werte“. In diesem Sinne versteht er die schöne Stadt.

Eine Blondine stöckelt vorbei

Deren Makel sind ohnehin unübersehbar. Schwarz wohnt an der Fritz-Elsas-Straße, zwei Spuren auf-, zwei abwärts, in der Mitte die Stadtbahn. „Ja, das ist laut“, sagt er, „aber man gewöhnt sich dran.“ Gegenüber ist die Max-Eyth-Schule saniert worden. Kaum waren die Bauarbeiter weg, haben Sprayer ihre Idee von Stadtverschönerung durchgesetzt. „Die Renovierung der Fassade war für die Katz“, sagt Schwarz.

Es ist kurz nach zehn am Abend, noch früh nach dem Maßstab des Partyvolks, das gegen Mitternacht auf der Theodor-Heuss-Straße einfällt. Als Vorbote stöckelt eine Blondine vorbei, die ihren Ausschnitt zurechtzupft, nicht aufwärts, abwärts. Vor dem Reformationsdenkmal des Hospitalhofs stehen Bierflaschen, deren Entsorgung wem auch immer zu lästig schien. Ein paar Schritte weiter hat der erste Volltrunkene des Abends seinen Mageninhalt auf dem Gehweg entleert.

Schwarz: Bei der Theo habe ich mich geirrt

Neun Uhr abends nennt Schwarz „die Zeit der Tag-und-Nacht-Gleiche“. Nicht der Dämmerung wegen, die im Sommer gegen neun anbricht, wegen des Publikumswechsels. Bummler und Stadtbewohner weichen Nachtschwärmern aus dem Umland. Was die Quartiere um die Partymeile erwartet, wird auf dem Kronprinzplatz unübersehbar. Dort versammeln die Türsteher ihre Schultern im Langhantelformat, bevor sie sich auf die Clubs verteilen um klarzumachen, dass hier niemand Streit anfängt, schon gar nicht mit ihnen.

„Bei der Theo habe ich mich geirrt“, sagt Schwarz, „ich dachte, das läuft sich in fünf Jahren tot, dann kommen Abriss und Stadtsanierung.“ Schade sei, „dass wir mit den Wirten nicht richtig Kontakt haben“, sagt er. Wäre es anders, könnte er die Partygastronomen von der Vision einer schöneren Stadt überzeugen, auf dass sie an deren Verwirklichung mitarbeiten, wie es die Wirte im Inneren des Hospitalviertels tun. „Vieles wäre besser, wenn die Stadt nicht zum anonymen Ort würde, an dem man sich gehen lässt“, sagt Schwarz.

Kreative entdecken das Quartier

Um die Ecke frönt eine andere Jugend anderen Interessen, auch wenn die von der Kirche betriebene Kletteranlage schon beliebter war als heute. „Lichterfest, Afrika-Festival, Jazz open“, zählt einer auf, der vor der dazugehörigen Bar sitzt und zuckt die Schultern. Auf der Büchsenstraße, 100 Meter abseits des Trubels, schlendert alle paar Minuten ein Mensch vorbei. Hier ist alles umgebaut und verkehrsberuhigt. Es ist gut geworden, schön. „Ich weiß nicht, ob ich mir hier Belebung wünsche“, sagt Schwarz. Er klingt, als sei die Frage beantwortet: nein. Unter Baumwipfeln ließe sich hier die Zeit der Tag-und-Nacht-Gleiche geradezu einatmen, in einer Stunde der Ruhe an einem Ort der Ruhe inmitten der Stadt.

„Ich bin eigentlich kein richtiger Stadtbewohner“, sagt Schwarz. Für die Wonnen des Großstädters – Bars, Bummel, Cafés, Konzert, Theater – fehlt ihm die Zeit. Der Beruf des Seelsorgers kennt keine 37,5-Stunden-Woche, und das Forum ruft meist abends zu Terminen. Seine Frau hat ein Abonnement für die Konzerte in der Liederhalle, er nicht. Inszeniertes ist ohnehin nicht, was ihn interessiert. Gelegentlich lockt ihn das alternative Kulturprogramm des Forum 3. „Die Stadt braucht solche Orte, die eine Art Geheimtipp sind“, sagt er.

Aber eigentlich strahlt die Stadt für ihn in anderer Schönheit, selbst wenn sie verblasst ist. „Das ist das ehemalige Wohnhaus von Gustav Schwab“, sagt er, „leider ist es nicht mehr zu erkennen.“ Der Bau, in dem einst der schwäbische Dichter lebte, ist eine in Blech bemantelte Scheußlichkeit. Den Pfarrer begeistert ein Klingelschild an einem Bürobau. Anwälte werben für sich, die Bedürftige verteidigen, Pflegedienste, die Arbeiterwohlfahrt, eine Sprachschule und eine Hobbygoldschmiede.

Ihm ist das ein Hinweis, dass Leben sprießt im Bürokratenquartier. Zahlen bestätigen das. Seine Gemeinde „ist eine der wenigen, die wachsen“, sagt er. Fremde aus aller Welt ziehen her, meist gut gebildet. „Junge Kreative entdecken das Quartier“, sagt Schwarz. Und Studenten haben ein paar Wohngemeinschaften gegründet. All dies gilt ihm als Zeichen des Wandels zu einer schöneren Stadt. Auch wenn nicht aller Wandel einer gegen die Zeichen der Zeit ist: Loretta hat ihr italienisches Restaurant aufgegeben. „Schade“, sagt Schwarz. Übernommen hat eine Burgerbude.