Stürzen und nicht mehr aufstehen zu können, das ist die Angst vieler alter Menschen. Ein Hausnotruf soll helfen. Auf Knopfdruck kommt kompetente Hilfe. Nicht so im Fall eines 78-Jährigen, den die Retter nur aufs Sofa setzen, nicht aber notärztlich versorgen ließen – mit gravierenden Folgen.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Karlsruhe - Der Mitarbeiter des Hausnotrufdienstes der Johanniter-Unfall-Hilfe habe seine Schutzpflichten grob vernachlässigt, entschied am Donnerstag der dritte Zivilsenat des Bundesgerichtshofes (III ZR 92/16). Denn der alte Mann, der den Alarmknopf betätigt hatte und um dessen Fall es ging , lag am 9. April 2012 hilflos in seiner Wohnung und konnte nicht mehr sprechen.

 

Für Ulrich Herrmann, den Vorsitzenden Richter, sind die Signale einfach zu deuten: ein Mensch braucht schnellstmöglich medizinische Hilfe. Der Senat verwies deshalb die bisher erfolglose Schadensersatz- und Schmerzensgeldklage der Töchter des inzwischen verstorbenen Kläger zur Wiederverhandlung zurück an eine – ausnahmsweise – andere Zivilkammer des Landgerichts Berlin. Zugleich erkannte er auf die Umkehr der Beweislast. Die Klägerinnen müssen nicht beweisen, dass die unterlassene medizinische Versorgung zu schweren gesundheitlichen Schäden ihres Vaters geführt hat. Der Notdienst muss darlegen, dass er nicht schuld an den Schäden ist.

Verhandelt wurde in Karlsruhe zwar über einen Einzelfall und nicht über die gesamte Branche. Aber die Rechtsanwältin der Klägerinnen ist überzeugt, dass die Entscheidung eine Anleitung für die Praxis der Arbeit von Hausnotrufdiensten vorgebe. Sie definiere die Aufgaben dieser Dienste, sagt Barbara Genius. Die Johanniter-Unfall-Hilfe wollte die Entscheidung am Donnerstag nicht kommentieren.

Der alte Mann kann nicht mehr sprechen

Was ist geschehen? Um 12.20 Uhr am 9. April 2012 geht bei der Leitzentrale der Johanniter-Unfall-Hilfe in Berlin der Notruf ein. Er kommt aus einer Wohnung eines Seniorenheims. Der 78-jährige Mann, der ihn abgesetzt hat, kann zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr sprechen. Der Mitarbeiter der Leitzentrale hört, als er Kontakt aufnehmen will, nur ein Röcheln. Über den Gesundheitszustand ist bekannt, dass er an Arthrose, Atemnot, chronischer Bronchitis, Herzrhythmusstörungen und Diabetes mellitus leidet. Der Mann braucht Medikamente und ist auf die Zufuhr von Sauerstoff angewiesen. So ist in dem Erhebungsbogen zu lesen, der dem Vertrag zur Teilnahme am Hausnotruf beiliegt. Es besteht ein erhöhtes Schlaganfallsrisiko.

Im Vertrag von 2010 sichert die Johanniter -Unfall-Hilfe dem Senioren zu, dass sein Notruf an einer ständig besetzten Zentrale angeschlossen sei, die ihm im Fall eines Notrufs unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung vermittle – unter anderem die eines Rettungsdienstes. Der alte Mann trägt fortan ein Armband mit Alarmknopf. Zwischen 750000 und eine Million ältere Menschen haben nach Branchenschätzung einen solchen Hausnotruf. Er soll ihnen Sicherheit geben und ein autonomes Leben in den eigenen vier Wänden ermöglichen. In etwa ein bis zwei Prozent der Notrufe sei medizinische Hilfe nötig. In den anderen Fällen gehe es um Hilfe nach einem Sturz, heißt es bei der Johanniter-Unfall-Hilfe. Sie ist einer der Anbieter auf dem umkämpften und wachsenden Markt. Wer mit einen Kunden über den Hausnotruf ins Geschäft kommt, kann bei zunehmender Pflegebedürftigkeit meist auch weitere Dienste anbieten.

Etwa eine Million Menschen haben einen Hausnotruf

Im Fall des 78-Jährigen informiert die Leitzentrale einen in Erster Hilfe ausgebildeten Mitarbeiter einer überregional arbeitenden Sicherheitsfirma. Sie ist Vertragpartner der Johanniter-Unfall-Hilfe in Berlin. Der Helfer braucht allerdings erst einmal selbst Hilfe, um dann mit einem Kollegen den schwer übergewichtigen Kranken auf sein Sofa zu setzen. Er signalisiert keine Schmerzen zu haben. Einen Notarzt verständigen die beiden nicht.

Am 11. April 2012 wird der 78-Jährige von einem Pflegedienst in seiner Wohnung liegend gefunden. Er ist halbseitig gelähmt und hat Sprachstörungen. Es wird ein zwischen ein und drei Tagen zurückliegender Schlaganfall attestiert – mit bleibenden Folgen. Sie wären zu vermeiden gewesen, wäre ihm die vertraglich zugesicherte medizinische Hilfe rechtzeitig zu Teil geworden, argumentieren die Klägerinnen.