Der koreanische Architekt Eun Young Yi besichtigt den fast fertigen Rohbau der Bibliothek 21. In knapp einem Monat steht das Richtfest an.

Stuttgart - Sie herrscht über die Brache mit kühler Strenge. Mit jedem Tag schließt sich ihr Betonmantel mehr. Die massige Kraft ihres Baukörpers scheint alles anzuziehen: Die Baucontainer zu ihren Füßen, die Bagger, die sie umkreisen und nicht zuletzt die Blicke von Tausenden von Autofahrern, die auf der Heilbronner Straße an ihr vorbeirauschen. Die Bibliothek 21 wächst unbeeindruckt von allem Streit, der nur wenige Hundert Meter von ihr entfernt um den Hauptbahnhof tobt, aus dem Matsch und Staub eines gewaltigen Baufelds in den Himmel.

In knapp einem Monat steht das Richtfest an. Am 12. Mai rückt die Bibliothek, die künftig das neue Europaviertel im Herzen der Stadt dominieren soll, erstmals als realer Bau in den Mittelpunkt - ein Bau, der in der Vorstellungswelt des koreanischen Architekten Eun Young Yi geboren wurde, in den Computeranimationen seines Büros in Köln zu einem virtuellen Gebilde aufgepäppelt wurde und nun erwachsen wird.

Herr Yi fährt zurzeit zweimal im Monat mit dem ICE von Köln nach Stuttgart, um dem von ihm entworfenen Würfel beim Wachsen zuzusehen. Auch an diesem Tag ist er gekommen, er pendelt zwischen dem PC, Besprechungen und der Besichtigung des Rohbaus, bei dem nach und nach die Fenster an der Fassade eingesetzt werden. Der 54-Jährige trägt Anzug, Krawatte und schwarze Businessschuhe unter denen Betonbrocken und Holzsplitter knirschen, als er das Innere des Baus betritt.

Mystischer Charakter


Eun Young Yi drückt den Rücken nach hinten durch und blickt hinauf zum noch verschlossenen Oberfenster, durch welches später das Licht in die Bibliothek einsickern soll. "Das wird ein Raum für die innere Einkehr. Hier sollen die Menschen eine Bindung zu geistigen Werten finden und sich von ihren materiellen Wahrnehmungen trennen." Yi spricht über das Herz der Bibliothek 21 - einen 14 mal 14 Meter großen Innenraum, den die Besucher durch Eingangstüren an allen vier Außenseiten des Würfels betreten können.

Noch dröhnt der Baulärm hinein, Metallteile liegen herum, Bauarbeiter laufen vorbei. Dennoch spürt der Baustellenbesucher schon heute im Innenraum etwas von dem, was Yi den "mystischen Charakter" nennt. Das Gehirn der Bibliothek wird aus 500.000 Büchern, CDs und DVDs zusammengesetzt sein - ihr Herz hingegen bleibt leer. Der Innenraum dient der Einkehr, er ist losgelöst von Renditeerwartungen auf einem der teuersten Bauplätze der Stadt.

Der Geist der Bibliothek 21 soll das gesamte Europaviertel hinter dem Bahnhof beflügeln. Zu diesem gehören die bereits bestehenden Gebäude der LBBW, die geplanten Pariser Höfe mit Wohnungen und Büros, ein Hochhaus an der Ecke Heilbronner-/ Wolframstraße und ein weiterer Gebäudekomplex mit einem Mix aus Büros, Läden und Restaurants. Es gibt viele Beispiele für neue Viertel, die kühl in bestehende Stadtlandschaften hineingepflanzt wurden und öde Zonen hervorbrachten, in die sich abends kaum ein Mensch verirrte.

Die Eröffnung ist für Herbst 2011 geplant


Die Bibliothek 21 soll ein Garant dafür sein, dass Leben ins neue Stadtareal einzieht. Man rechnet mit mehr als einer Million Besuchern im Jahr, Stuttgart lässt sich seinen Kulturschmuckkasten 79 Millionen Euro kosten. "Der Bau wird nicht teurer als geplant", sagt Rolf Mössner vom Hochbauamt, der in den vergangenen Monaten machtlos zusehen musste, wie der harte Winter das Projekt verzögert hat. Dennoch soll die Bibliothek Ende 2011 eröffnet werden. "Womöglich wie geplant im Herbst."

Eun Young Yi hat einen langen Atem und eine gute Kondition. Er steigt durch das Treppenhaus des Rohbaus immer weiter hinauf, der Architekt weiß, dass in Seoul schneller als in Stuttgart gebaut wird. Über die Bibliothek 21 hat er erstmals 1999 nachgedacht. "Jetzt geht es nur noch um Feinheiten", sagt er, während er im fünften Stock des Gebäudes vor nackten Betonwänden steht, die in anderthalb Jahren hinter Bücherwänden verschwunden sein werden. Über dem leeren Raum, dem Herz der Bibliothek, schließt ein trichterförmiger Raum nach oben an. In diesem lichtdurchfluteten Lesesaal werden die Besucher an rund 100 Arbeitsplätzen sitzen.

Herr Yi ist oben angekommen. Er blickt von der Dachterrasse, die bald eine Leseterrasse sein wird, zum Bahnhof. Abends wird er in den Zug zurück nach Köln einsteigen. Der Architekt ist ein Pendler - auch zwischen Deutschland und seiner Heimat Südkorea, die er als 30-Jähriger verließ, um nach dem Architekturstudium in Europa Fuß zu fassen. Seit 1994 führt er in Köln sein eigenes Büro, in Seoul hat er eine Gastprofessur angenommen.

Den künstlichen See hat man schwäbisch eingespart


Sein Blick reicht über enge Horizonte hinaus. Er spricht über das römische Pantheon und darüber, wie ihn dessen Lichtstimmung für den Bau der Bibliothek beeinflusst hat. Der Wind fährt ihm ins Haar, der Architekt blickt vom Dach in die Tiefe. Yi sieht, wie die ersten asphaltierten Straßen bereits den Pariser Platz bei der LBBW mit seinem Bau verbinden, wie 40 Meter unter ihm die künftige Kopenhagener Straße in den Matsch gelegt wird - eine Fußgängerzone, in die bereits die kreisförmigen Löcher für die Bäume eingestanzt sind.

Ende 2011 wird die Bibliothek wie ein einsamer Solitär inmitten der größten Baustelle Europas stehen. Sie wird den unfertigen Gebäuden ihre Haut aus Milchglas zeigen, und die ersten Mutigen werden sich im darauffolgenden Sommer im Gras niederlassen, das sie umgibt. Eigentlich sollte der Würfel von einem Wasserbecken umgeben sein. Den künstlichen See hat man schwäbisch eingespart, Herr Yi sieht das inzwischen mit koreanischer Gelassenheit. Dass die Megabaustelle rund um die Bibliothek noch viele Jahre erhalten bleibt, bereitet dem Architekten keine Sorgen: "Ich arbeite hier nicht für die nächsten fünf, sondern für die nächsten 500 Jahre."