Dem Bundestags-Wahlkampf wurde oft das Etikett langweilig angeheftet. Bezogen auf politische Konzepte mag das stimmen. Doch er hat auch die Risse offenbart, die durch die deutsche Gesellschaft gehen, meint der StZ-Autor Michael Maurer.

Stuttgart - Es dauerte lange, aber kurz vor Ende dieses Wahlkampfs ist dann auch dem Bundespräsidenten der Kragen geplatzt. „Tomaten und Trillerpfeifen sind im demokratischen Diskurs kein Mittel zu höherer Erkenntnis“, wetterte Frank-Walter Steinmeier. Wer zornig sei, solle selbst das Wort ergreifen, statt andere zum Schweigen bringen zu wollen. Er meinte damit das Treiben auf Marktplätzen, in Versammlungshallen und vor allem auf digitalen Plattformen, wo häufig mit gut organisierten Trupps versucht wurde, den politischen Gegner zum Verstummen zu bringen.

 

Die Art und Weise, in der dieser Wahlkampf zum Teil stattfand, hat insofern seine scheinbare Inhaltsleere erschreckend kontrastiert. Deshalb stehen am Sonntag nicht nur Parteien, Kandidaten und Konzepte zur Wahl, sondern auch die Formen, in denen die Gesellschaft künftig ihre Konflikte austragen will.

Hier heile Welt, dort Gebrüll

Die Risse, die durch das Land gehen, sind in den vergangenen Wochen deutlich geworden. Deutschland ist in grundlegenden politischen Fragen nicht tief gespalten wie es die USA oder Großbritannien sind. Auch ist hier in der Breite kein Hang zu einem autoritären Politikverständnis zu spüren wie in anderen Ländern Europas. Dennoch gibt es Tendenzen, die in diese Richtungen gehen, und die – gepaart mit einer tiefen Verachtung des bestehenden Systems – zu einer Gefahr für die deutsche Demokratie werden könnten. Hier die heile Welt des TV-Duells und dort die mannigfachen Versuche, Politiker bei ihren Auftritten nieder zu brüllen, illustrieren den Spalt, der auch hierzulande bereits klafft.

Deutschland geht es gut wie lange nicht, wenn man auf Beschäftigung, Wirtschaftswachstum oder Steuereinnahmen blickt. Aber es geht – gefühlt oder real – nicht allen Menschen in diesem Land gut, wie es der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ausdrückt. Das hat mit den persönlichen Lebensverhältnissen zu tun, mit fehlenden Perspektiven oder mit der Furcht vor Zuwanderung. Diese Diskrepanz zwischen der allgemeinen und der individuellen Lage vieler Menschen besteht, kein Zweifel. Die entscheidende Frage aber ist, wie sie behoben werden kann. Auch darauf hat dieser Wahlkampf Antworten gegeben: konstruktive und destruktive.

Abkehr vom gesellschaftlichen Konsens

Die Auseinandersetzungen der Parteien mögen für viele ermüdend und langweilig gewesen sein. Und ja: die traditionellen politischen Lager sind sich in vielem einig, ihnen fehlen sowohl die wirklichen Konfliktpunkte als auch die großen Visionen, die sie unterscheidbar machen. Dennoch steckt hinter ihrer Politik das Bemühen, Lösungen im Konsens zu finden, was oft mühsam, unspektakulär und in jedem Fall langwierig ist. Diese Eintönigkeit schafft andererseits aber den Raum für radikale Positionen, die einfache Lösungen versprechen, die mit Tabubrüchen und Provokationen Aufmerksamkeit heischen, deren Gegenentwurf aber vor allem die Ablehnung des Bestehenden und nicht die Idee von etwas Neuem propagiert. Was auf den ersten Blick für viele einleuchtend klingt, brächte in der Umsetzung zudem die Abkehr vom bisherigen gesellschaftlichen Konsens, weil es im Wesentlichen auf Polarisierung und Abschottung angelegt ist.

Deutschland hat seine Probleme: Zuwanderung, Reform der Sozialsysteme, innere Sicherheit oder soziale Gerechtigkeit – all dies sind gewaltige politische Herausforderungen. Es ist außerdem eine große Aufgabe, den Zusammenhalt der Gesellschaft und ihre demokratischen Grundregeln zu stärken. Das ist jedoch alles innerhalb des bestehenden politischen Systems lösbar, dazu bedarf es keines radikalen Wechsels. Aber es kann nur im Schulterschluss von Politik und Bürgern gelingen. Wie eng dieser ist, entscheidet sich auch an diesem Sonntag: durch den Gang ins Wahllokal – und durch ein Kreuz an der Stelle, wo die Demokratie gestützt wird.