Die „Bild“ wird 60. Die einst auflagenstärkste Tageszeitung Europas schwächelt. Sie kämpft um ihre schwindende Leserschaft.

Seite Drei: Dieter Fuchs (fu)

Berlin - Der Anruf kam an einem Sonntag. Gerade würde ein Riesenpimmel an die Hauswand geschraubt. Ines Pohl, gerade einmal vier Monate Chefin der „taz“, schwang sich aufs Rad und fuhr in die Redaktion. „Das hat einen Tumult ausgelöst“, erzählt sie in ihrem Glaskabuff im vierten Stock des „taz“-Gebäudes. Bei dem Kunstwerk, das ihre Vorgänger in Auftrag gegeben hatten, handelt es sich um die Darstellung des Gemächts eines Mannes, der Kai Diekmann, dem Chefredakteur der „Bild“, ähnlich sieht. Der Künstler Peter Lenk vom Bodensee hat das Relief kreiert und im November 2009 anbringen lassen. Er wollte provozieren, den Sexismus und die Menschenverachtung der „Bild“-Zeitung anprangern und womöglich Kai Diekmann beleidigen.

 

Doch die Provokation verpuffte. Dieses Zeugnis eines 30-jährigen Kampfes der „taz“ mit der „Bild“ um die Darstellung der Wirklichkeit in Deutschland machte letztlich nur deutlich, wie sich die Zeiten geändert haben. Den Kampf gegen das Massenblatt „Bild“ wollen heute nur noch wenige mit aller Härte führen. Hat sich die „Bild“, die im Juni 60 Jahre alt wird, verändert, oder sind ihre Gegner nur müde geworden?

Pohl und eine Mehrheit der Redaktion wollten das Relief entfernen lassen: „Ich finde es nicht gut, wenn über Körperlichkeiten Witze gemacht werden. Jetzt kann man natürlich sagen, Diekmann hat selbst Schuld. Trotzdem trifft ihn das ja.“ Im Übrigen bevorzuge sie eine andere, stilvollere Ebene der Auseinandersetzung. Sie wolle ihn lieber mit journalistischen Tugenden schlagen: Recherche und Konfrontation.

„Wir kämpfen mit scharfen Krallen“

Das Relief Lenks entfaltet einen besonderen Charme, weil es von der Zentrale des Springer-Konzerns aus gut zu sehen ist. Das Kunstwerk blieb bis heute an Ort und Stelle, weil Lenk vertraglich vereinbart hatte, dass es mindestens zwei Jahre hängen bleiben müsse. „Und jetzt hängt es halt“, meint Pohl schulterzuckend. Dreihundert Meter trennen die Häuser von „taz“ und Springer, sie sind beinahe grotesk in ihrer Gegensätzlichkeit: auf der einen Seite ein 19-stöckiges Hochhaus mit riesigem Glasanbau, der an eine Shoppingmall erinnert, auf der anderen Seite ein heruntergekommener Altbau, an dessen Eingangstür die Klingeln nicht funktionieren und in dem es keinen Aufzug gibt. Wer zur Redaktion will, durchquert das „taz“-Café und geht durch eine Tür, hinter der sich auch die Toiletten befinden könnten.

„taz“ und „Bild“ haben sich immer wieder beharkt. Das Sprachrohr der linken Bombenleger gegen den Kettenhund des Konservativismus im Land. Das Projekt der linken Gegenöffentlichkeit im Kampf gegen das Massenblatt des kleinen Mannes. David gegen Goliath.

Ines Pohl sieht diese Zeiten hinter sich: „Es ist ein Relikt, dass die „taz“ ihr Profil schärft, indem sie sich an der „Bild“ abarbeitet. Die „taz“ wurde als Gegenentwurf gegründet, aber davon hat sie sich gelöst.“ Man sei erwachsen geworden. Die 45-Jährige hat keine Berührungsängste gegenüber Springer. Selbstverständlich hat sie die pompöse Geburtstagsfeier für den Verlagsgründer Axel Springer diese Woche besucht. „Wir sind hart in der Sache, kämpfen mit scharfen Krallen.“ Trotzdem könne man dem Gegner differenziert begegnen.

Die „Bild“ hat einen Bundespräsidenten zu Fall gebracht

„Die ,Bild‘-Zeitung hat sich unter Diekmann natürlich verändert“ sagt Pohl. Letztes sichtbares Zeichen sei die Verbannung des Covergirls ins Innere. Das Blatt sei nachrichtlicher geworden, gebe sich einen seriöseren Anstrich, unter anderem mit politischen Exklusivgeschichten wie die der Kundus-Affäre oder die Berichterstattung über Christian Wulff. Sie müssten ihr Themenfeld erweitern, denn der pure Trash verkaufe sich nicht mehr. Da sei ein Teil ihrer Klientel weggebrochen, die millionenstarke Arbeiterschicht. Pohl nimmt das als schrittweise Entwicklung über viele Jahre wahr. „Das heißt aber nicht, dass sie seriöser geworden sind, was ihre Methoden zur Informationsbeschaffung anbelangt und ihre ethische Verortung. Die lassen immer noch Leute beliebig über die Klinge springen.“ Vielleicht sei die Zeitung gefährlicher als früher, weil sie jetzt den Anschein eines ordentlichen Blattes erwecke.

In der Bewertung ist die Chefredakteurin knallhart: „Die ,Bild‘ ist immer noch genauso reaktionär wie früher. Aber ihre Macher legen sich nicht mehr so fest auf ein klares politisches Feindbild.“ Doch wenn es ans Eingemachte gehe, zeigten sie ihr wahres Gesicht, etwa wenn Hartz-IV-Empfänger oder Ausländer attackiert würden. „Ich lese die Zeitung jeden Tag. Vieles ist zutiefst menschenverachtend. Das ist überhaupt nicht besser geworden“, sagt Pohl. „Die Verpackung ist anders – wir werden seriös, das ist die Botschaft.“

Keiner kann den angestrebten Imagewechsel der „Bild“ besser verkörpern als Nikolaus Blome. Der Chef des Parlamentsbüros ist die Nummer drei hinter Kai Diekmann und Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner. In Talkshows verkauft er sich gut – und das mit großem Spaß: „Wenn ein Mitarbeiter von ,Bild‘ öffentlich auftritt und dabei eine ordentliche Figur macht, wird manches Klischee hinweggefegt.“ Blome plaudert elegant, ist zurückhaltend, witzig und trägt auch mal ein Cordsakko. Aber er weiß immer, dass er die Seriosität und die Macht der „Bild“ verkörpert. Er hat einen Bundespräsidenten zu Fall gebracht.

In Richtung Mainstream?

Ist „Bild“ die mächtigste Zeitung Deutschlands? Zwei Sekunden Schweigen, dann sagt er: „Als Journalist habe ich Schwierigkeiten mit dem Begriff Macht. In jedem Fall sind wir eine wichtige, stets gehörte Stimme.“ Zwölf Millionen Leser erreicht die Printausgabe, weitere 14 Millionen nutzen das Online-Angebot, das kann kein anderes deutsches Medium aufweisen, auch wenn die Zahlen hochgerechnet sind. „Hinzu kommen unsere Ressourcen“, sagt Blome. Wenn ein ganzes Team zwei Jahre immer wieder am Thema Wulff arbeiten könne, seien gute Ergebnisse zu erwarten. Vorgestern wurde bekannt, dass die Wulff-Berichterstattung der „Bild“ für den Henri-Nannen-Preis nominiert ist, einem der renommiertesten Journalistenpreise der Republik. Es wäre die erste Auszeichnung dieses Ranges für die „Bild“.

Über seine sechs Jahre bei dem Boulevardblatt weiß der stellvertretende Chefredakteur wenig Negatives zu berichten. Der 48-Jährige ist mitverantwortlich für den Kurswechsel der Zeitung hin zu mehr politischen Exklusivgeschichten und, wie er sagt, dem Anspruch, „auch erklärend zu wirken, in die Tiefe zu gehen“. Gilt das auch für die Griechenland-Berichterstattung, die in Vorwürfe mündete, das Blatt sei keine Zeitung mehr, sondern ein Pamphlet? „Die Boulevardzeitung muss polarisieren. Und wir haben der Bundesregierung und anderen in großen Interviews oft Gelegenheit gegeben, ihre Sicht der Dinge darzustellen. Wochenlang schrieb die „Bild“ 2010 von faulen Pleitegriechen, die ihre Inseln verkaufen sollten, statt mit 50 in Rente zu gehen. „Unser Argument, man soll in ein Fass ohne Boden nicht Geld reinwerfen, war richtig. Über Geschmack kann man streiten, aber ich sehe da keine grundsätzlichen Fehler.“ In der Bewertung der Themen bewege sich die Redaktion immer auf sicherem Grund – und manchmal mit dem gleichen Tenor wie die „Zeit“ und der „Spiegel“ – „nur wir machen es kürzer“.

Hat sich die „Bild“ in Richtung Mainstream bewegt? „Ich glaube eher, die anderen haben sich geöffnet“, sagt Blome. Methoden und Themen des Boulevards würden heute auch von anderen Medien, dem „Spiegel“, der „Zeit“ und den Online-Portalen angewendet. Aber das sei beileibe kein Trend zur Verflachung. „Alle Zeitungen müssen heutzutage darüber nachdenken, wie ihre Themenmischung aussieht.“

Zeitung soll Gefühle auslösen

Tatsache bleibt: keine andere nationale Zeitung betreibt die Emotionalisierung eines Themas so konsequent wie die „Bild“. Ob Freude oder Hass – wichtig ist, dass die Zeitung Gefühle auslöst. Für Blome ist es kein Problem, wenn neben den politischen Themen ein blutiger Mord aufgemacht wird. Die Zahl von Presseratsbeschwerden hält er für wenig aussagekräftig, „es hat schon einzelne Uniseminare gegeben, in denen zahlreiche Beschwerden entstanden sind“. Ernst nehmen müsse man die tatsächlich ergangenen Rügen, eine Art Strafmaßnahme. Deren Zahl, rund vier pro Jahr, ist nach Auskunft des Presserats seit 1986 konstant. „Bild“ bleibt die meistgerügte Zeitung. Im „Bild“-Blog, in dem Journalisten seit 2004 Presseverfehlungen aufarbeiten, fällt das Blatt bei Weitem am häufigsten negativ auf.

In der Auflage hat sich der veränderte Kurs der „Bild“ bisher nicht positiv niedergeschlagen. Das Blatt verliert seit Jahren Auflage, seit 2002 allein 1,4 Millionen. Derzeit werden täglich 2,67 Millionen „Bild“-Zeitungen verkauft.

Der Kioskbesitzer Alfred Roller registriert das ganz genau. Er betreibt seit 13 Jahren sein Geschäft im Stuttgarter Königsbau gegenüber dem Schlossplatz. Hier treffen Banker auf Straßenkehrer und Schulkinder. „Früher haben wir 120 „Bild“ am Samstag verkauft, heute sind es 80“, erzählt er. Als junger Mann hätte sich Roller nicht vorstellen können, jemals die „Bild“ zu verkaufen. Der 55-Jährige war in der Tübinger Studentenszene aktiv und betrieb später einen linken Buchladen am Wilhelmsplatz. In seinem jetzigen Laden sammelt sich Kitsch neben Kunst, Deutschlandfahnen liegen neben einer Kafka-Ausgabe von 1935. Auch als er den Kiosk übernommen hatte, fasste er das Blatt noch mit spitzen Fingern an. „Meine Frau legt es bis heute außerhalb ihres Blickfeldes ab, weil sie die Schlagzeilen nicht den ganzen Tag ansehen will.“

Die Kundschaft hat sich nicht wesentlich verändert

Doch die Feindbilder sind verblasst, und auch Roller bescheinigt dem Blatt, dass es gemäßigter geworden ist. Es versuche eben, mit dem Zeitgeist zu gehen. Er kann sich noch erinnern, als vor einigen Jahren für ein paar Tage die Nackte von der Seite eins verschwand. „Das gab einen Riesenaufstand, sogar bei mir im Laden haben sich die Leute beschwert.“ Jetzt ist das „Seite-1-Girl“ völlig geräuschlos gekippt worden. Ob das dem Blatt im Kampf um Kunden hilft? Roller legt seine hohe Stirn in Falten. Bisher habe sich die Kundschaft nicht wesentlich verändert. Es seien ganz überwiegend Männer jenseits der 50. Außerdem: in vielem sei sich die „Bild“ treu geblieben, etwa in ihrer reaktionären Agenda. Das habe man in der Griechenland-Berichterstattung wieder sehen können.

Da tritt ein alter Mann heran. Ein Stammkunde, raunt Roller. Er kauft, wie er selbst sagt, seit 60 Jahren die „Bild“ – früher, als er noch Gabelstapler fuhr, auf dem Weg zur Arbeit. Heute liest er sie auf seinen Radtouren. Er ist zufrieden mit dem Blatt, „die wissen alles“. Und er bekommt Futter, um sich aufzuregen: „Bloß wegen dem Weib mit dem Hefezopf auf dem Kopf sollen wir die Fußballspiele aus der Ukraine hierherverlegen? So ein Schafscheiß! Aber wenigstens würden die Politiker dann nicht unsere Steuern mit ihren Fußballreisen verfliegen. Das Geld könnten sie dann den Griechen in den Arsch stecken!“