Immer mehr Sonderschüler wollen in Regelschulen. Doch die Stadt kommt mit der Umsetzung kaum noch nach. „Wir stehen hinter der Inklusion, aber wir stoßen an unsere Grenzen“, sagt Schulbürgermeisterin Susanne Eisenmann

Stuttgart - Die Zahl der Sonderschüler, die an allgemeinbildenden Schulen unterrichtet werden, nimmt in Stuttgart stark zu – so stark, dass es sein könnte, dass die Landeshauptstadt diese vom Gesetz eingeräumte Möglichkeit vielen Kindern verwehren muss, weil sie so schnell gar nicht die Rahmenbedingungen dafür schaffen kann. Mit diesem Thema werden sich am 14. Juli der Schulbeirat und am 15. Juli der Verwaltungsausschuss des Gemeinderats befassen.

 

Denn bereits im kommenden Schuljahr rechnet Schulbürgermeisterin Susanne Eisenmann (CDU) mit rund tausend Inklusionsschülern – vor vier Jahren waren es gerade mal 87. Grund dafür ist der Wegfall der Sonderschulpflicht und eine Stärkung des Elternwahlrechts. Und viele Eltern wollen eben, dass ihr behindertes Kind eine Regelschule besucht. Was bisher in Stuttgart nur als Schulversuch in einer Modellregion möglich war, wird vom nächsten Schuljahr an im Schulgesetz fixiert. Mittlerweile besuchen in Stuttgart 35 Prozent der Sonderschüler eine Regelschule. Damit liegt die Landeshauptstadt schon jetzt deutlich über dem, was das Land als Berechnungsgrundlage für die Förderung annimmt: Das Land geht nämlich insgesamt von maximal 28 Prozent inklusiv beschulter Kinder bis zum Endausbau im Schuljahr 2022/23 aus.

Stadt befürchtet Klagen der Eltern

Diese Entwicklung stellt die Stadt vor logistische Probleme – nicht nur räumlich. Denn auch der Umfang der Aufgaben hat somit zugenommen, die Zahl der Mitarbeiter aber nicht. Das betrifft beispielsweise die Organisation der Schülerbeförderung, aber auch die Schulentwicklung – für beide Bereiche hält Eisenmann eine sofortige Aufstockung von je einer halben Stelle für nötig, um für das kommende Schuljahr gerüstet zu sein. Wenn die Stadt nicht rechtzeitig allen Inklusionskindern einen Zugang ermögliche, könnte es sein, das betroffene Familien ihr Recht einklagen, sagt die Bürgermeisterin.

Auch über die strukturelle Weiterentwicklung der Sonderschulen und den Aufbau inklusiver Schulstandorte muss neu nachgedacht werden. Denn an den Sonderschulen ist die Schülerzahl zwar rückläufig, aber nicht im erwarteten Umfang. Der Grund ist, dass insgesamt die Zahl der Kinder zunimmt, bei denen ein sonderpädagogischer Bildungsanspruch festgestellt wird. Ein weiterer Punkt, der die Stadt beschäftigt: für die Betreuung der Kinder mit Handicap, etwa in der verlässlichen Grundschule oder der verbindlichen Ganztagsschule, fehlt speziell geschultes Personal. In welcher Größenordnung, das sei noch nicht klar, so Eisenmann. „Das müssen wir erst noch bewerten. Aber da gibt es kommunalen Handlungsbedarf.“

Land will Förderung der Sachkosten zurückfahren

Auch in anderer Hinsicht kommt die Inklusion die Stadt als Schulträgerin teuer zu stehen. Denn das Land will seine Förderung beim Kostenausgleich der Sachkosten massiv zurückfahren – die Stadt rechnet mit rund einer Million Euro an Mindereinnahmen im Jahr. Kritische Einwände beim Städtetag hätten nicht gefruchtet. Der Vorschlag Stuttgarts, die bisherigen Sachkostenbeiträge beizubehalten, sei nicht aufgegriffen worden. Erst in drei bis vier Jahren solle es eine Überprüfung der tatsächlich ausgegebenen Sachkosten geben. „Ein Kompromiss“, sagt Eisenmann, „aber besser als nichts“. Im übrigen gebe es Inklusion nicht kostengünstig. „Aber wir müssen den gesetzlichen Anspruch umsetzen, wir stehen auch hinter der Inklusion, aber wir stoßen an unsere Grenzen.“

Eine besondere Regelung gibt es für die Schüler aus privaten Sonderschulen, die an einer städtischen Regelschule inklusiv beschult werden – das sind derzeit rund 160 Schüler aus Erziehungshilfeschulen. Neudeutsch spricht man von Schülern mit einem sonderpädagogischen Bildungsanspruch im emotionalen und sozialen Bereich. Im Unterschied zu städtischen Inklusionsschülern, die künftig ganz regulär zur Regelschule dazugezählt werden, dürfen Inklusionsschüler aus Privatschulen nicht beim Klassenteiler berücksichtigt werden, und die Stadt bekommt für sie auch keine Kostenerstattung. Diese Schüler sollen deshalb nur in sogenannten Außenklassen – also als eigenständige Gruppe – an öffentlichen Schulen unterrichtet werden und nicht in Regelklassen.

Außenklasse ist nur eine von mehreren Alternativen zur Sonderschule. Als weitere Angebote setzt die Stadt darauf, dass Inklusionskinder wohnortnah in Gruppen unterrichtet werden und nur ausnahmsweise einzeln. Zudem ist geplant, Schwerpunktstandorte für Inklusion festzulegen, und zwar dort, wo es die räumlichen Rahmenbedingungen bereits jetzt zulassen. Auch Campuslösungen werden weiter verfolgt. Mittelfristig will die Stadt diese Schulentwicklung in einem Masterplan verankern.

Unterschiedliche Förderung

Zum Schuljahr 2015/16 greift das neue Schulgesetz. Es verpflichtet Kommunen und Schulträger, die Inklusion umzusetzen.

Stuttgart ist seit vier Jahren Modellregion für Inklusion. Bereits im Rahmen des Schulversuchs hat die Zahl der Inklusionskinder seither jedes Jahr zugenommen (siehe Grafik).

Den mit Abstand größten Anteil bei den Inklusionskindern machen die Förderschüler aus: Im Jahr 2013/14 waren es 293 Schüler, im aktuellen Schuljahr sind es 409 Schüler. Ebenfalls deutlich gestiegen ist in diesem Zeitraum die Zahl der Inklusionsschüler aus den Erziehungshilfeschulen – von 102 auf 173 Schüler. Weniger stark vertreten sind weiterhin die Geistigbehinderten (Anstieg von 42 auf 59), die Sprachbehinderten (von 32 auf 43) und die Körperbehinderten (von 18 auf 20). Der Anteil der hör- und sehgeschädigten Kinder bleibt einstellig. An den Regelschulen erhalten die Inklusionsschüler spezifische Unterstützung durch Sonderpädagogen. Von deren Knowhow profitieren auch die Lehrer der Regelschule.