In Frankreich soll es keine Sitzenbleiber mehr geben. Bildungsministerin Vallaud-Belkacem schafft die “Ehrenrunde“ ab. Was Reformer grundsätzlich begrüßen, stößt bei Traditionalisten auf heftige Kritik.

Paris - Es ist diese Folterfrage, die einem noch in den Knochen sitzt, wenn man die Schule längst hinter sich gelassen hat. „Gibt es Sitzenbleiber in dieser Klasse?“ Zu Beginn eines jeden Schuljahres wollen Frankreichs Lehrer das wissen. Wer nicht versetzt wurde, hat seinen ganzen Mut zusammenzunehmen, den Finger zu heben und im Kreis der neuen Kameraden den Offenbarungseid zu leisten.

 

Aber mit dem Sitzenbleiben soll jetzt Schluss sein. Frankreichs Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem hat ein entsprechendes Dekret auf den Weg gebracht. Im nächsten Jahr soll es in Kraft treten. Ausnahmen sind allein bei hohen Fehlzeiten eines Schülers vorgesehen und auch nur, sofern die Eltern dies wünschen. Ansonsten gilt: jeder wird versetzt. Für Frankreich kommt dies einer Revolution gleich. 28 Prozent der 15-jährigen Schüler haben dort bereits einmal eine Klasse wiederholt. Im EU-Durchschnitt liegt der Anteil der Sitzenbleiber lediglich bei zwölf Prozent. Ein Ranking der 34 Staaten der Organisation für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) weist Frankreich auf Platz fünf aus.

Vallaud-Belkacem, die sich bereits als reformfreudige Ministerin für Frauen und Familie viel Feind und viel Ehr gemacht hat, steht damit erneut im Kreuzfeuer der Kritik. Der konservative Lehrerverband Snalc wirft der 37-jährigen Sozialistin vor, mit einer Versetzungsgarantie in den höheren Klassen „ein Massaker“ anzurichten. Andere Lehrerorganisationen halten es zwar auch für wenig hilfreich, einem Schüler das ihn überfordernde Jahresprogramm ein zweites Mal vorzusetzen und seiner Selbstachtung bleibenden Schaden zuzufügen, zugleich warnen sie aber davor, auf das Instrument des Sitzenbleibens zu verzichten, ohne Alternativen zu haben.

Nun ist es nicht so, dass die Reformerin daran nicht gedacht hätte. Sie empfiehlt „auf den Schüler abgestellte individuelle Förderprogramme und pädagogische Begleitung“. Wie das bei Klassen von mehr als 30 Schülern zu leisten ist, sagt der Erlass nicht. So könnte es sein, dass dem Unterrichtstempo nicht gewachsene Schüler endgültig den Anschluss verlieren und vorzeitig von der Schule abgehen. Schon jetzt stehen in Frankreich jährlich 150 000 Jugendliche ohne Abschluss auf der Straße.