Keiner soll zurückbleiben, kein Talent darf verloren gehen. Individuelle Förderung und Eigenverantwortung der Schüler führen zu radikalen Veränderungen im Unterricht. Welche Schüler profitieren davon? Der StZ-Autor Christoph Link hat sich umgeschaut.

Stuttgart - Es ist nicht die atemraubend schöne Lage des Internats hoch oben über dem Thuner See, mit dem gigantischen Blick auf die schneebedeckten Alpen und in die Welt hinein, die den Besucher so fasziniert. Das Institut Beatenberg liegt im Kanton Bern, 60 Kinder zwischen 11 und 17 Jahren werden dort auf Sekundarschulniveau unterrichtet. Dass eine kleine Privatschule in attraktiver landschaftlicher Umgebung liegt, das war erwartbar gewesen. Aber das wirklich Neue, das frappierende Geheimnis dieser Schule, das ist eigentlich ein großes Zimmer. Der sogenannte Lernraum, im Prinzip das Herz der Schule, in dem das neue Lernen stattfindet.

 

Man könnte auch personalisiertes oder selbstgesteuertes Lernen sagen. Der Schüler nimmt sein Lernen – angeleitet – weitgehend selbst in die Hand, und der Lehrer wird zum Lerncoach, zum Trainer oder Begleiter. Die Schüler arbeiten an Lernjobs – es sind die gleichen Aufgaben für alle, aber sie werden je nach Leistungsstand erst zugeteilt, wenn sie zu bewältigen sind. Und sie verbringen 50 Prozent ihrer Schulzeit in diesem Zimmer, das der Rektor Andreas Müller am Telefon als eine „Art Großraumbüro“ geschildert hatte. Wie soll das, bitteschön, funktionieren?

Der Lernraum ist aus der Zusammenlegung von vier Klassenzimmern entstanden, er erinnert an eine große Wohnung, Schüler sitzen an 30 Schreibtischen, haben persönliche Fotos darüber hängen, einen Rollcontainer darunter gestellt. Ein paar Zwischenwände, Bücherregale, sieben Computer mit Internet, Holzparkett für die Socken tragenden Schüler – und natürlich die Fenster mit Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Es herrscht die sogenannte Flüsterkultur. Aufstehen ist erlaubt, Recherche am Regal und im Internet auch. Und das Kontaktieren von Mitschülern oder den zwei anwesenden Lehrern, den Lerncoaches, um bei einer kniffligen Aufgabe Hilfe zu erfragen, ist nicht nur gestattet, es ist ausdrücklich erwünscht.

Selbstständige Lernarbeit, wie in der Universitätsbibliothek

Der Besucher hat seine eigene Gymnasialzeit vor Augen, damals, ein Lehrer sprach, 25 schrieben mit oder malten Kringel ins Heft. Er kramt in Erinnerungen, wo er je diese freie, trotzdem konzentrierte Arbeitsatmosphäre erlebt hat. Der Vergleich mag überzogen klingen, aber es war in einer deutschen Universitätsbibliothek, mit ihrem grauen Teppich, den Tischlämpchen und den endlosen Buchreihen, wo jeder für sich schafft, aber nicht allein ist, wo ein Austausch in akademischer Gemütlichkeit und leisem Tonfall möglich war, wo jeder fokussiert ist auf sein Ziel.

In Deutschland wird zurzeit heftig diskutiert über neue Lernformen, die den Schüler als Individuum stärker berücksichtigen. Vor allem in den Gemeinschafts- und Gesamtschulen greifen neue Konzepte, die stark an Beatenberg erinnern. Schon 2006 gewann die Max-Brauer-Schule in Hamburg den Deutschen Schulpreis mit einem innovativen Ansatz. Sie nahm Abschied vom herkömmlichen Fachunterricht, führte das Lernen in Lernbüros, Projekten und Werkstätten ein: Jeder Schüler plant gemeinsam mit dem Lehrer sein eigenes Lernvorhaben und überprüft es anhand von sogenannten Kompetenzrastern – Tabellen, auf denen Lernziele eingetragen sind.

Die zunehmend bunt zusammengewürfelten Klassen zwingen die Bildungsexperten zum Umdenken. Dass Schüler einer Altersgruppe den gleichen sozialen Status, eine ähnliche Herkunft und kulturellen Hintergrund haben, das ist im von sozialer Mobilität geprägten Zuwanderungsland Deutschland selten geworden. Mit Schlagworten wie „Kein Talent darf verloren gehen“ oder „Keiner darf zurückbleiben“ agieren Bildungspolitiker in einem System, in dem die Wirtschaft nach Fachkräften ruft und der demografische Wandel es absehbar macht, dass alle Branchen Nachwuchsprobleme bekommen. Dass Schüler die Schule abbrechen oder auch nur ihre Potenziale nicht ausschöpfen, kann und will die Gesellschaft sich nicht mehr leisten.

Abkehr vom Frontalunterricht der alten Schule

Die Bildungstheoretiker kennen fast ein Dutzend Fachwörter für die neuen Unterrichtsformen: innere Differenzierung, offener Unterricht, adaptiver Unterricht, selbst gesteuertes Lernen oder kompetenzorientierter Unterricht sind nur einige. Ihnen gemeinsam ist die Abkehr von dem, was Wohlmeinende als strukturierten Unterricht bezeichnen, die Kritiker Frontalunterricht nennen und was der 15-jährige Beatenberg-Schüler Christian Hug aus Baden-Württemberg in recht plastischer Weise beschreibt: „An der Realschule, an der ich früher war, da saßen wir im Blockunterricht, und der Lehrer hat uns zugetextet.“ Da sei er oft beinahe eingeschlafen, und wer nicht aufpasste, war schon Verlierer. So sei er bei den Noten in den Viererbereich gerutscht. Hier in Beatenberg sei er selbstständiger, habe mehr Spaß am Lernen und Freiheiten – er sei jetzt im Zweierbereich. Diese Woche stehe nachmittags für ihn im Lernteam nur Mathe auf seinem Plan, da wolle er sich auf eine Prüfung vorbereiten, um auf ein Gymnasium oder in eine Ausbildung zu wechseln. Ja, und Französisch mache er heute eine Stunde länger, damit er morgen beim Hockeyturnier dabei sein könne.

Die hohe Flexibilität und die eigene Verantwortung der Schüler sind das Markenzeichen der kleinen Privatschule. Die schulischen Erfolge sind vergleichsweise gut. Der Schulrektor Andreas Müller, Jahrgang 1950, hat sich von der „School of the Future“ im kalifornischen Alameda inspirieren lassen, die schon 1996 Grenzen forträumen wollte: „die der Zeit, des Raumes, der sozialen Rollen, der Alterstrennung, der Fächer und der Leistungsgruppen“. Sie seien Lernende von Beruf, sagt Andreas Müller seinen Schülern. Am Anfang eines pädagogischen Konzeptes müsse die Frage stehen, für wen Schule eigentlich da sei. Für den Lehrer? Sicher nicht. Der Lernende müsse im Mittelpunkt stehen – sonst niemand. Für den müsse die Schule eine Erfolgsgeschichte werden, der Jugendliche müsse sich in der Schule als kompetent erleben.

Es geht weniger um den Lehrer als um die Lernenden

Tatsache ist, dass in der Didaktik lange der Lehrende im Fokus stand – was muss er über sein Fach wissen, wie vermittelt er den Stoff? Müller kam 1985 an das Internat und hat dessen Konzept peu à peu verändert. Das Zuhören sei doch die ungeeignetste Form, Informationen zu verarbeiten, sagt er. Das sei wie beim Essen, Vorgekautes schmecke nicht, es laste den Magen auch nicht aus. Es gehe um das eigene Erfahren, um die emotionale Verarbeitung von Lernstoffen. „Und wir müssen die Vielfalt organisieren. Wir müssen sie als Chance nutzen. Das bedeutet die Abkehr von kollektiven Verbindlichkeiten, hin zu individuellen Verbindlichkeiten.“ Noten, Prüfungen für alle oder Sitzenbleiben ergeben in solch einem System keinen Sinn.

Das Internat hat die Beschulung radikal auf den Kopf gestellt: Nur ein Viertel des Stundenplans entfällt auf sogenannte Fachateliers in den Kernfächern, die dem klassischen Unterricht noch am ähnlichsten sind. Dort gibt der Lehrer den Input – an der Kreidetafel oder am Beamer –, doch die Schüler sind nicht nach Alter, sondern nach Leistungsniveaus geordnet. Dass beispielsweise in Deutsch ein 15-jähriger Migrant aus Russland mit einem Elfjährigen aus Winterthur zusammensitze, das werde von dem Älteren nicht als Schmach empfunden, sagt Müller: Der sei froh, überhaupt mitzukommen. Ein weiteres Viertel der Schulalltags entfällt auf Wahlfächer wie Musik, Naturwissenschaften und Sport, wo es nach Neigungen geht.

Aber das eigentliche Standbein ist der offene Bereich, das Lernen in Lernteams und im Lernraum, das, wie eingangs geschildert, 50 Prozent der Unterrichtszeit ausmacht. Der Coach gibt Hilfe zur Selbsthilfe: Anja ist eine Perfektionistin, sie schiebt das Lösen von Aufgaben vor sich her, aus Angst einen Fehler zu machen – der Coach entwickelt mit ihr eine Strategie, dies zu überwinden. Klaus knabbert an der Sinus- und Cosinus-Funktion, kommt nicht weiter – der Coach hilft mit einem Exkurs. Thorsten schnippt Papierkügelchen in den Lernraum – der Coach nimmt ihn im gläsernen Vorzimmer ins Gebet: „Ich hatte heute Morgen schon den Eindruck, dass etwas schiefläuft. Da bahnt sich jetzt wieder etwas an.“

Profitieren nur die Schwächeren?

In der Fachliteratur werden individuelle Lernkonzepte mitunter mit dem historischen Hauslehrerprinzip in Verbindung gebracht. Olaf Pollmeier (42) hat früher an einer konservativen Kaderschule in der Schweiz unterrichtet, jetzt ist er in Beatenberg und vergleicht: Die Schüler kämen schneller mit Fragen zum Lehrer, weil der immer Zeit für sie habe, weil er präsenter sei. Das sei anders als an einer normalen Schule. Er selbst hat für sich die Erkenntnis gewonnen, dass der Schüler interessanter sei als das Fach. „Jeder Jugendliche hat seine eigene Schule“, sagt Andreas Müller.

Die große Frage bleibt, ob nur die schwächeren Schüler von der Individualisierung profitieren und die starken in die Röhre gucken. Der Bildungsforscher Christian Fischer hat sich in einer Studie für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung auf die Pisa-Studie von 2012 bezogen, die verdeutliche, „dass in Deutschland ein Nachholbedarf an erfolgreicher Talentförderung besteht, da an Gymnasien keine Verbesserungen in der Leistungsspitze zu erkennen sind und gerade dort ein Mangel an individueller Förderung herrscht“. Auch hochbegabte Kinder könnte man in sogenannten Pull-out-Gruppen am Gymnasien einladen. Die Freiheit dazu – für Schwache und für Starke mehr zu tun – haben die Schulen. Einige machen davon Gebrauch.

Wenn die älteren Schüler die jüngeren unterrichten

Das Gymnasium Wilhelmsdorf im Kreis Ravensburg zum Beispiel: es hat den Fächerunterricht gekürzt, um mehr Zeit für Freiarbeit und (sage und schreibe) 200 Kurse zu haben. Schüler können Themen nach Neigung und Begabung wählen, Defizite aufarbeiten, Stoff und Arbeitstempo selbst bestimmen. Sie können Methodenkurse belegen, in denen sie etwas über Rhetorik oder Internetrecherche erfahren. Fortgeschrittene Schüler dürfen jüngere unterrichten. Aber was bringt dass den Starken? Ist es nicht Zeitverschwendung für sie? Experten sind davon überzeugt, dass dieses Peer-Tutoring – das Voneinander-Lernen – selbst den begabten weiterhilft. Das Erklären sei ein Prozess des Vergewisserns und Verarbeitens.

Die großen Erfolgsmeldungen auf dem weiten Feld der Individualisierung aber kommen von den Gemeinschaftsschulen. Sie brechen die alten Schulraster auf. Die Anne-Frank-Schule im schleswig-holsteinischen Bargteheide – eine Gemeinschaftsschule mit gymnasialer Oberstufe – führte fächerübergreifenden Unterricht ein, verstärkte Förderangebote, gab regelmäßiges Feedback an die Lernenden, stellte für sie individuelle Lernpläne auf und lud zu Lernwerkstätten und Stärken-Seminaren ein. Ihr Erfolg war verblüffend und ist 2013 mit dem Deutschen Schulpreis belohnt worden: Die Schule nimmt regelmäßig jeweils ein Drittel Kinder mit Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialempfehlung auf, aber am Ende sind zehn Prozent aller Abiturienten an der Anne-Frank-Schule Jugendliche, die einst eine Hauptschulempfehlung erhalten haben.

Wissensverm,ittlung – eine politische Frage

Wie Wissen vermittelt wird, das ist eine zutiefst politische Frage. Norbert Zeller, der Stabsstellenleiter für Gemeinschaftsschulen und Inklusion am Kultusministerium in Stuttgart, registriert mit Genugtuung, wie sich die neue Lernkultur an den Pädagogischen Hochschulen, an den Erziehungswissenschaftlichen Instituten der Universitäten und den Referendariatsseminaren jetzt niederschlägt. Auch Andreas Müller ist mittlerweile in der Lehrerfortbildung in Baden-Württemberg engagiert. „Unter dem CDU-Kultusminister Rau sind doch innovative Ansätze aus ideologischen Gründen blockiert worden“, sagt Zeller, der 23 Jahre lang für die SPD im Landtag saß. „Rektoren von Gemeinschaftsschulen, die etwas Neues wagten, mussten im Kultusministerium vortanzen!“ Die Zeiten seien unter Grün-Rot vorbei, das Land werde die Zahl der Gemeinschaftsschulen binnen zwei Jahren vervierfachen: „Stärkere und Schwächere bleiben zusammen. Die Lernarbeit muss künftig ganz stark aufs einzelne Kind abzielen“, sagt Norbert Zeller. Sein Dienstherr und Parteifreund, Kultusminister Andreas Stoch, sieht das genauso: Auch Realschulen und Gymnasien müssten sich weiterentwickeln, er wolle „das individualisierte Lernen an den weiterführenden Schulen voranbringen“, sagt er.

Unumstritten ist das nicht. Vor gut einem Jahr brach ein Disput über das neue Lernen in Baden-Württemberg aus. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mokierten sich die Pädagogikprofessoren Matthias Burchardt (Köln) und Jochen Krautz (Alfter bei Bonn) über das selbst organisierte Lernen: Das sei nicht mehr als ein neues Etikett. Seit Jahrhunderten wisse die Pädagogik, dass Erziehung, Bildung und Lernen „ein Beziehungsgeschehen zwischen Personen“ sei, „die ihre Aufmerksamkeit gemeinsam auf eine Sache richten“. Studien belegten, dass ein von der Lehrperson aktiv gelenkter Unterricht effektiver sei als eine Reduzierung des Lehrers auf den Lernbegleiter: „Guter Unterricht lehrt Verstehen, durch Zeigen und Erklären des Lehrers, durch gemeinsames Diskutieren und Überprüfen lernen Schüler zunehmend, ein eigenes, fachlich fundiertes Urteil zu bilden.“

Jede Schule muss die richtige Mischung selbst finden

Offensichtlich prallen da zwei Denkschulen aufeinander. Sucht man eine neutrale Instanz, könnte man beispielsweise Katrin Hille befragen, Psychologin vom Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm. Sie ist den Ideen zur individuellen Förderung aufgeschlossen, hält sogar gemeinsame Vorträge mit Andreas Müller. Hille hat ein halbes Jahr ein Sabbatical genommen, um durch die Schulen von vier Bundesländern zu touren. Sie hat dabei eine große Offenheit der Lehrer für neurowissenschaftliche Studien festgestellt, die erklären, was der Schüler hört und ob er aufnahmebereit ist. Aber die Frage, was der beste Unterricht sei, das beste Lehren, die stelle sich immer wieder neu. Ziel sei, dass möglichst viele Schüler eines Jahrgangs den Stoff tief verarbeiteten.

Aber den alten Unterricht von Pult und Tafel will Katrin Hille gar nicht verdammen. Sie sagt eine sehr einfache Wahrheit, die aber ein schlagendes Argument sein kann. „Man sieht es an den Gesichtern der Kinder: Wenn sie konzentriert sind und an den Lippen des Lehrers hängen, dann ist der Unterricht gelungen.“ Strukturierter Unterricht oder individualisiertes Lernen – vermutlich muss die exakte Mischung jede Schule für sich selbst erfinden.

Der Deutsche Schulpreis

„Dem Lernen Flügel verleihen!“ ist das Motto des Deutschen Schulpreises, den die Robert Bosch Stiftung und die Heidehofstiftung (beide Stuttgart) 2006 ins Leben gerufen haben. Ausgezeichnet werden Schulen, die mit ihren innovativen pädagogischen Konzepten Vorbild für andere sein können.

Den Hauptpreis erhielt 2014 die Anne Frank Schule München. Preise bekamen auch die Erich Kästner Schule Hamburg und die Römerstadtschule Frankfurt am Main. Beide ermöglichen ihren Schülern eigenverantwortlichen Umgang mit dem Lernstoff.