Neben Religiösem enthält das neue Veranstaltungsprogramm des Hospitalhofs Unerwartetes – beispielsweise Kritik an der Wirtschaftsordnung. Im Grunde geht es um Bildung für alle.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Die Wortwahl des obersten Bildungspfarrers in Stuttgart ist eine andere, im Kern allerdings trifft das wie stets derbe Luther-Zitat Helmut A. Müllers Anliegen: „Dummheit regiert, wenn Bildung krepiert.“ Müller ist Herr über das Bildungsprogramm des Hospitalhofs. Das sieht er „durchaus den Vorstellungen Martin Luthers verpflichtet“. Die waren, ganz grob: Nicht nur eine Elite, ein Jeder hat ein Recht, über die Gesellschaft mitzubestimmen, in der er lebt. Damit werden Bildungsangebote für alle zur Pflicht.

 

Die Schwerpunktthemen der Hospitalhof-Reihe „sind für mich signifikant für die gesamte geistige Großwetterlage der letzten fünf und der nächsten fünf Jahre“, sagt Müller. Luther ging es zunächst darum, dass jeder im Volke das Lesen und Schreiben erlernt, weil Analphabeten grundsätzlich von Bildung ausgeschlossen sind. Müller geht es darum, „zu diskutieren, welche Kräfte diese Gesellschaft auseinandertreiben“. Plakativ und volkswirtschaftlich gesehen, ist ein Beispiel für eine solche Kraft der Zinssatz. Die Bank, die für ihre Geschäfte wie selbstverständlich zweistellige Renditen ansetzt, gewährt Sparern einen Zins, der im besten Fall eben noch die Inflation ausgleicht. „Das ist eine Enteignung auf kalten Wege“, sagt Müller.

Was wäre die bessere Bundesrepublik?

Die Veranstaltungsreihe „Was trägt, was spaltet die Gesellschaft?“ dauert acht Vortragsabende lang. An den beiden letzten versuchen Referenten die Frage zu beantworten, wie sich eine bessere Bundesrepublik organisieren ließe, eine, die sich am Menschen statt an volkswirtschaftlichem Nutzen des Menschen misst, eine christlichere im Sinne der Nächstenliebe.

Um die 200 Veranstaltungen sind im aktuellen Halbjahresprogramm des Hospitalhofs vermerkt. Rund 400 werden es folgerichtig und tatsächlich bis zum Ende des Jahres werden. Dabei setzt Müller Schwerpunkte, die von einer kirchlichen Institution nicht unbedingt zu erwarten sind. Psychische Erkrankungen beispielsweise, ein Seminarabend mit Tipps für die erfolgreiche Selbstständigkeit oder ein Konzert, bei dem Musiker auf Flöten aus der Steinzeit spielen, Hirnforschung, Kosmologie.

Auch Sex ist Thema einer Bildungsreihe

Selbst „Sex ist kein Tabu mehr, auch in der Kirche“ – jedenfalls in der evangelischen. „Unsere Urgroßeltern hatten keine Chance, über Sexualität zu sprechen“, sagt der Bildungspfarrer, „man hat ihn vollzogen.“ Selbstredend ist es nicht der lustvolle oder lustlose Vollzug, der die Referenten des Hospitalhof-Programms beschäftigt. Eher ist es die Frage, ob es „eine hintergründige Verbindung zwischen Liebe, Erotik oder Spiritualität gibt“, wie Müller es formuliert. Über „Intimität und Verlangen“ spricht im April David Schnarch, der führende Sexualforscher in den Vereinigten Staaten. Müller verspricht grundsätzlich, dass ausschließlich deutschland-, europa- oder gar weltweit renommierte Referenten eingeladen sind.

Die sollen in gewisser Weise auch die Kirche selbst hinterfragen. „Diese ganze globalisierte Welt ist multikulturell und multireligiös“, sagt Müller, „man kann Religion heute nicht mehr so denken wie früher.“ Eine Vortragsreihe ist „Gott neu denken“ überschrieben. Es geht um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Weltreligionen, die Frage, ob Religion dem Menschen einem Instinkt gleich naturgegeben ist, auch um die, ob Religion in einer zunehmend religionsfreien Gesellschaft allein aus wissenschaftlichen Gründen zu erhalten sei.

„Ich denke, das Programm ist spannend, man kann sich darauf freuen“, sagt Müller, „noch mehr freue ich mich darauf, dass wir im März 2014 in den Hospitalhof zurückkehren“ – in den Neubau des Hospitalhofs, der derzeit entsteht. Das Ausweichen auf wechselnde Veranstaltungsorte hat Publikum gekostet. Um die 50 000 Besucher jährlich kommen üblicherweise zu den Bildungsabenden. Im vergangenen Jahr blieben – je nach Veranstaltung – bis zu zwei Drittel der Plätze leer. Für 2013 hat Müller die Zahl der Angebote im Bildungsprogramm von vornherein um rund 20 Prozent gesenkt, allein schon aus dem weltlichsten aller Gründe: Seit der zentrale Veranstaltungsort fehlt, „verbringen wir ein Drittel unserer Arbeitszeit auf der Straße“.