Im Dauerstreit um das Bildungszeitgesetz sehen sich die baden-württembergischen Arbeitgeber von Grün-Rot getäuscht. Den Arbeitnehmern würden seit Januar mehr Möglichkeiten zur Qualifizierung auf ein Ehrenamt geboten als zuvor gedacht.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Für die Gewerkschaften im Südwesten ist es die große Errungenschaft der vergangenen fünf Jahre unter Grün-Rot: Das Bildungszeitgesetz, das jedem Arbeitnehmer einen jährlichen Anspruch auf fünf Tage Freistellung gewährt, habe eine 40 Jahre währende „bildungspolitische Durststrecke“ im Land beendet, sagt die Verdi-Landeschefin Leni Breymaier mit „unbändiger Freude“. In Kraft getreten ist das Gesetz nach erbittertem Streit am 1. Juli 2015, doch Ruhe ist nicht eingekehrt. Vielmehr flackert der Konflikt im Vorfeld der Landtagswahl im März umso heftiger auf.

 

Zum 1. Januar wurde die letzte große Baustelle auf diesem Feld beseitigt: Seither gilt die Verordnung, mit der die betriebliche Freistellung zur Vorbereitung auf Ehrenämter geregelt wird. Sie ist somit auch für viele Vereine relevant. Vor wenigen Tagen hat das landesweit zuständige Regierungspräsidium Karlsruhe zudem ein „gesondertes Anerkennungsverfahren“ für die Anbieter der Bildungsmaßnahmen gestartet.

„Das Ausufern war politisch gewollt“

Was die Regierung weithin unbeachtet in die Ehrenamtsverordnung hineinformuliert hat, erbost die Wirtschaftsverbände. „Wir fühlen uns – nicht zum ersten Mal im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens – hinter die Fichte geführt“, sagt Stefan Küpper, Geschäftsführer für Bildungspolitik der Arbeitgeber Baden-Württemberg. Vor der Realisierung der Verordnung habe der federführende Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid (SPD) der Wirtschaft – also auch den Kammern – signalisiert, dass sie ihre Vorstellungen einbringen könne. Nun stelle sich heraus: „Alles Makulatur – es war politisch gewollt, dass das Gesetz ausufert.“ Entgegen den Ankündigungen „wurde im Prinzip so ziemlich alles hereingenommen, was man sich hat vorstellen können“, so Küpper.

Tatsächlich benennt die Verordnung einen weiten Bereich ehrenamtlicher Leitungstätigkeiten, für deren Qualifizierung die Freistellung beantragt werden kann: vom Sport, über Amateurmusik, Amateurtheater und Laienkunst, die Arbeit mit Kindern und jungen Volljährigen, die „Mitgestaltung des Sozialraums“, den Tier-, Natur- und Umweltschutz, Heimatpflege und kirchliche Aufgaben bis hin zum „Vereinsmanagement“. Zudem wird „jedwede Aufgabe“ in öffentlichen Ehrenämtern und bei der Betreuung Benachteiligter gefördert.

Das Spektrum sei so breit gefasst, dass die Gemeinwohlorientierung stellenweise fraglich sei, sagt Küpper. Praktisch hätten alle Vereine des Landes ihre Wunschliste abgeben dürfen. Auch sei der „Qualitätsanspruch weitestgehend aufgegeben worden“. Die Arbeitgeber betonen, dass ihnen das Ehrenamt wichtig sei, sehen es aber nicht als Aufgabe der Wirtschaft an, die Ressourcen dafür bereitzustellen. Dies sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Firmen seien schon „Hauptakteur der Weiterbildung“.

Die Gewerkschaften warnen vor Verschlechterungen

Zwar gestehen die Arbeitgeber, dass sie im Gesetz selbst sehr wohl ihre Vorstellungen eingebracht hätten. Aber in puncto Ehrenamt sei „unseren Einschätzungen in keiner Weise Rechnung getragen worden“, zürnt Küpper. „Man hat hinten herum sogar noch einen draufgesetzt.“ Denn erstens erlaube die Verordnung auch die bezahlte Freistellung eines Arbeitnehmers, um sich in der „allgemeinen Weiterbildung“ zu qualifizieren. Zweitens habe Minister Schmid zwar recht, wenn er die Förderung eines „Tauchkurses vor Mallorca“ ausschließe – dies gelte aber nicht für die Fortbildung des Tauchtrainers, der im Rahmen der deutsch-spanischen Gewerkschaftswoche einen Kurs „Zusammenhalten in Grenzsituationen“ anbiete, spottet Küpper.

Großes Interesse bei den Bildungsträgern

Während die Qualifizierung zum Ehrenamt noch Fahrt aufnehmen muss, berichten Leni Breymaier (Verdi) und andere Landesvorsitzende im DGB schon von einer regen Seminartätigkeit infolge des Gesetzes. Konkrete Zahlen gibt es nicht – ebenso wenig vom Wirtschaftsministerium. „Angaben zu den Beschäftigten, die von der Bildungszeit Gebrauch machen, können wir derzeit nicht machen“, sagt dessen Sprecherin. Dies werde erst im Rahmen einer Evaluation möglich sein. Dazu sehe das Gesetz einen „Erfahrungszeitraum“ von vier Jahren vor. Seitens der Bildungseinrichtungen sei das Interesse groß. Zum 4. Februar waren 386 Bildungsträger nach dem Gesetz anerkannt.

Speziell die IG Metall hat ihr Angebot an Fortbildungskursen für die Mitglieder verstärkt. Sie gibt auch die schärfste Warnung ab: „Wer hier das Schnitzmesser anlegt, anstatt das Gesetz weiterzuentwickeln“, sagt Bezirksleiter Roman Zitzelsberger, „der wird den Widerstand der Gewerkschaften ernten.“ Viel lieber sähe man im DGB einige Korrekturen: Breymaier fordert zum Beispiel, dass es für Beschäftigte in kleinen Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten keine Einschränkungen mehr geben dürfe. Übertragungen des Anspruchs ins Folgejahr müssten möglich sein – und alle Auszubildende sowie Dual Studierende müssten gleichgestellt werden, indem sie jedes Jahr neu die Bildungszeit beantragen dürfen.