Deutschland benötige Jahr für Jahr Hundertausende von Einwanderern, sagen führende SPD-Politiker. Bilkay Öney, die Integrationsministerin in Baden-Württemberg, ist da skeptisch.

Stuttgart - Die Reaktionen waren gemischt als SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann mit der Forderung vorpreschte, die große Koalition in Berlin müsse ein Einwandungsgesetz nach kanadischen Vorbild vorlegen. Deutschland benötige Hundertausende von Einwanderern, um seinen Arbeitskräftebedarf zu decken, sagte Oppermann.

 

Die Grünen spendeten Beifall, in der CDU ist das Unterfangen umstritten, die CSU lehnte brüsk ab. Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) warnt vor überhöhten Erwartungen.

Frau Öney, die SPD hat die Diskussion um ein Einwanderungsgesetz wieder entfacht. Sollen wir dem kanadischen Beispiel folgen und ein Punktesystem einführen, dass Menschen den Weg nach Deutschland öffnet, die hier leben und arbeiten wollen?
Wir haben bereits liberale Regelungen zur Einwanderung. Mit denen können wir arbeiten. Ein Punktesystem kann ergänzend und punktuell hilfreich sein. Aber es ist nicht die Lösung aller offenen Fragen bei der Zuwanderung.
Die Wirtschaft klagt schon jetzt über Fachkräftemangel. Ist es nicht sinnvoll, ein Konzept zu entwickeln, das gut ausgebildete Arbeitskräfte nach Deutschland einlädt?
Ja, das klingt gut, und das Ansinnen ist richtig. Ich will aber darauf aufmerksam machen, dass schon jetzt viele Menschen zu uns kommen. Da sind erstens die Flüchtlinge – ein Thema, das wir in diesen Tagen heiß diskutieren. Zweitens verzeichnen wir Einwanderung über die Heiratsmigration und Familienzusammenführung. Drittens schließlich kommt ein erheblicher Teil der Zuwanderer aus EU-Staaten. Da sind durchaus qualifizierte Arbeitskräfte dabei, aber auch gering oder gar nicht qualifizierte. Der entscheidende Punkt ist: Auf diese drei Gruppen können wir auch mit einem Einwanderungsgesetz keinen Einfluss nehmen. Wir werden weiterhin Asylbewerber haben, wir werden weiterhin Heiratsmigration erfahren, und wir werden auch künftig Zuwanderung über die EU-Binnenmigration erleben. Ich finde, wir sollten unsere Kraft und unsere Ressourcen vorrangig darauf richten, diese Menschen, die sowieso kommen, in unsere Gesellschaft zu integrieren.
Bei einer rein ökonomischen Betrachtung: Wie viel Einwanderer bräuchten wir denn, um unsere Wirtschaftskraft zu erhalten? Im Übrigen hatte Deutschland vor wenigen Jahren einen negativen Wanderungssaldo. Es gingen mehr Menschen weg, als kamen.
Es gibt wissenschaftlich fundierte Berechnungen, nach denen bis zum Jahr 2025 fast sieben Millionen Erwerbstätige in Deutschland fehlen. Bis zum Jahr 2060 verlieren wir ein Fünftel der Bevölkerung. Um dies aufzufangen, müssten jährlich etwa 300 000 bis 400 000 Menschen einwandern. Das sagen die Experten. Sie sagen aber auch, dass viele Deutschen gar keine Einwanderung wollen.
Wie bitte?
Es gibt Umfragen und Studien, die zeigen, dass jeder Zweite sagt, in Deutschland gebe es bereits zu viele Ausländer. Zuwanderung ist in der Bevölkerung nicht sehr erwünscht.
Hat die inzwischen verbreitete Erkenntnis, dass Deutschland ein Demografie-Problem mit erheblichen ökonomischen Folgen hat, nicht zu einem Bewusstseinswandel geführt – hin zu einer positiveren Grundeinstellung gegenüber Einwanderung?
Jein. In den vergangen zehn, zwanzig Jahren ist im Bereich Integration einiges passiert. Aber es gibt nun mal Regionen, in denen sich der Unmut in einer lautstarken und verbal gewalttätigen Form äußert.
Sie meinen Pegida.
Ich meine Pegida, aber nicht nur. Wenn zum Beispiel Asylbewerberunterkünfte eingerichtet werden sollen, dann ist das auch nicht immer einfach. Ich finde ganz generell, dass wir die Einwanderungsdiskussion nicht allein unter den Primat der Ökonomie stellen dürfen. Es gibt zwei Komponenten, die können sie nicht berechnen: das ist der Mensch und das ist der soziale Frieden.
Sie sagen also, eine Einwanderung in einem Umfang, der den Schrumpfungsprozess der deutschen Bevölkerung ausgleicht, würde die Aufnahmebereitschaft der Inländer überfordern?
Das könnte passieren. Ich will es nicht beschwören. Als Politiker tragen wir aber Verantwortung dafür, dass Integration gelingt. Das bedeutet, wir müssen die Zuwanderer, die wir bei uns haben oder die auf den vorher beschriebenen Wegen zu uns kommen, fit für den Arbeitsmarkt machen. Und wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Kinder der Einwanderer gut in das Bildungssystem integriert werden.
Ist Deutschland für Hochqualifizierte überhaupt attraktiv?
Englischsprachige Länder üben eine höhere Anziehungskraft aus. Das liegt auch daran, dass an den Elite-Unis der meisten Länder Englisch gesprochen wird. Wenn wir ein Einwanderungsgesetz machen, werden also nicht automatisch die Topkräfte vor der Tür stehen.
Geben Sie zu, Sie halten ein Einwanderungsgesetz für unnötig.
Nein, das sage ich nicht. Deutschland ist ein modernes Land, das sich inzwischen auch dazu bekennt, ein Einwanderungsland zu sein. Ein modernes Einwanderungsgesetz stünde uns gut zu Gesicht – auch als Zeichen nach innen, um das Bekenntnis zur offenen Gesellschaft sozusagen auch schriftlich zu verankern. Wir haben aber bereits verschiedene Formen von Einwanderung, wir haben auch diverse Programme für Mangelberufe. Wir können in einem Gesetz weitere Möglichkeiten zur Einwanderung aufzeigen. Der Bund muss dann aber auch Ressourcen für die Integration bereit stellen. Und ich weise darauf hin, dass wir zwar – wissenschaftlich erwiesen – Einwanderung brauchen. Zugleich aber – auch dies ist wissenschaftlich untersucht – Einwanderung eher nicht wollen. Dies in Einklang zu bringen, ist die große Kunst.