Kleine Organe brauchen weniger Energie: Bei kalten Temperaturen verdaut das Rotwild seine Nahrung im kleineren Verdauungstrakt. Wird es wieder wärmer, gibt es mehr zu fressen und die Organe werden wieder größer. Das Rotwild kann seinen Organismus an die wechselnden Jahreszeiten anpassen.

Stuttgart - Mit dampfendem Atem stapft das Rotwild durch den verschneiten Winterwald – und steckt dabei in einer lebensgefährlichen Zwickmühle: Um ihren Organismus warm zu halten, brauchen die Tiere in der Kälte einerseits mehr Energie. Andererseits finden sie jetzt viel weniger zu fressen als im Sommer und die Pflanzen enthalten obendrein kaum noch Nährstoffe. Ein tödliches Dilemma droht, das die Hirsche mit ihren in der warmen Jahreszeit angefressenen Fettvorräten allein kaum lösen können. Daher passen sie ihren Organismus mit einer Reihe von Maßnahmen an die harschen Winter an, berichten Walter Arnold von der Veterinärmedizinischen Universität Wien und seine Kollegen in der Fachzeitschrift „American Journal of Physiology“.

 

Den Tricks des Rotwilds kamen die Forscher auf die Schliche, als sie drei Jahre lang 16 Hirschkühe durch alle vier Jahreszeiten fütterten – und dabei verblüffende Zusammenhänge beobachteten: Um ihren Körper auch im Winter auf Betriebstemperatur aufzuheizen, brauchen die Tiere bei tieferen Temperaturen mehr Energie. Dieser Zusammenhang lässt keinen Raum für Zweifel. Trotzdem fressen die Hirschkühe im Winter gerade einmal halb so viel wie im Sommer. Dabei stand ihnen beliebig viel Nahrung zu Verfügung. Warum aber legen die Tiere ausgerechnet dann, wenn sie mehr Futter brauchen, eine Diät ein?

Kleine Organe brauchen weniger Energie

Ein genauer Blick auf den Organismus und eine detaillierte Analyse des Stoffwechsels der Tiere erklärte den Forschern dieses rätselhafte Verhalten: So schrumpften die Verdauungsorgane des Rotwilds im Winter erheblich. Diese Maßnahme können die Tiere sich gut leisten, weil sie ohnehin weniger fressen und daher weniger zu verdauen haben. Die kleineren Organe wiederum brauchen weniger Energie.

Gelöst ist das Problem damit aber bei weitem noch nicht. Erst als die Forscher die Vorgänge in der Darmwand der Hirsche analysierten, entlarvten sie den entscheidenden Trick, mit dem die Tiere dem Winterdilemma entkommen. Dort transportieren die Zellen Bestandteile der gefressenen Nahrung wie Zucker und Teile von Proteinen in den Organismus, die besonders viel Energie enthalten. Ähnlich wie durch die Zapfpistole an einer Tankstelle fließt durch die Darmwand also der Treibstoff in den Körper. Im Winter aber transportieren die Zellen dort die nahrhaften Zucker und Protein-Bruchstücke viel schneller in den Organismus als im Sommer.

In der kalten Jahreszeit nutzen die Hirsche so die Nahrung viel besser als an warmen Tagen aus. Diese Überlegung bestätigen die Forscher, wenn sie den Kot der Tiere untersuchen. Im Winter finden sie darin erheblich weniger Proteine als im Sommer. „Im Winter zählt eben jede Kalorie“, fasst Walter Arnold zusammen. Weitere Energie liefert das Fett, das die Tiere sich im Sommer angefressen haben und das in der kalten Jahreszeit nach und nach verbrannt wird. Zusammen mit der maximalen Ausbeutung der kargen Nahrung und ein paar weiteren Energiespar-Maßnahmen reicht das normalerweise, um über den Winter zu kommen. Ganz anders sieht die Situation aus, wenn im Frühjahr der Schnee schmilzt und die Pflanzen frisches Grün sprießen lassen. Jetzt findet das Rotwild mehr als genug Futter, das obendrein auch noch voller Nährstoffe steckt.

Die Tiere können nun leicht darauf verzichten, auch noch die letzte Kalorie aus ihrer Nahrung zu quetschen. Stattdessen scheiden sie ihr Futter rasch wieder aus, um Platz für Nachschub zu schaffen, der ja reichlich angeboten wird. Jetzt wachsen auch die Verdauungsorgane wieder und bieten so noch mehr Platz für den schnellen Snack. Auch wenn größere Därme ihrerseits mehr Energie brauchen, gibt es in der warmen Jahreszeit auch genug Sprit, um den Nachwuchs aufzuziehen. Steht der dann sicher auf eigenen Beinen und kann sich selbst versorgen, gibt es vermutlich wieder Eicheln und Bucheckern, Kastanien und Obst, um sich reichlich Winterspeck anzufressen. Dann kann der nächste Winter kommen, in dem man in geschrumpften Verdauungsorganen wieder die letzte Kalorie aus dem kargen Futter quetscht.