Das Weihnachtswunder gehört für manche Tiere zum Alltag: Ganz ohne Männchen haben einige Arten Nachkommen. Beide Geschlechter sind aber biologisch sinnvoll.

Stuttgart - Das Weihnachtswunder dürfte für einen Fadenwurm fast schon zum Alltag gehören. Ist doch eine Jungfernzeugung für einige der von Zoologen „Nematoden“ genannten Winzlinge durchaus üblich. In bestimmten Situationen verzichten die Weibchen also auf männliche Schützenhilfe bei der Fortpflanzung und bekommen trotzdem Nachwuchs. Auch bei deutlich größeren Tieren bis hin zu drei Meter langen Echsen und fünf Meter langen Python-Riesenschlangen oder auch Truthühnern schaffen die Weibchen die Vermehrung notfalls auch ohne das angeblich starke Geschlecht. In der Natur gibt es also durchaus Vorbilder für die Jungfrau Maria, die an Heiligabend in einem Stall bei Bethlehem Jesus zur Welt brachte.

 

Walter Traunspurger nennt dann auch eine ganze Reihe von Tiergruppen, bei denen Jungfernzeugung zum Alltag gehören kann: „Wasserflöhe und Blattläuse können genauso wie Rädertierchen und Bärtierchen auch ohne Männchen Nachkommen in die Welt setzen“, fasst der Zoologe zusammen, der an der Universität in Bielefeld Tierökologie lehrt. „Und natürlich Nematoden“, ergänzt der Forscher. Fadenwürmer sind anscheinend die häufigsten Tiere auf der Erde, allzu selten scheint die von Biologen Parthenogenese genannte Jungfernzeugung daher nicht zu sein: Im Süßwasser kommen rund 30 Prozent aller Nematodenarten ohne Männchen aus.

Wenn es auch ohne das männliche Geschlecht geht, stellt sich die Frage, weshalb es überhaupt Männchen gibt. Schließlich sind sie ein ziemlich teurer Luxus. Gibt es doch bei vielen Arten ähnlich viele Tiere von beiden Geschlechtern. Wären die Männchen völlig überflüssig, würden sie den Weibchen ohne weiteren Nutzen die Hälfte der vorhandenen Nahrung wegfressen. Solche Mitesser aber hätte die Evolution längst weg rationalisiert. Genau das aber ist nicht geschehen. Die Männchen müssen also für irgendetwas nützlich sein.

Wozu gibt es überhaupt Männchen?

Um diesen Nutzen zu verstehen, sollte man sich das Erbgut der Tiere ein wenig genauer anschauen, das in jedem Individuum normalerweise doppelt vorhanden ist. Dabei kommt ein Chromosomensatz von der Mutter und der andere vom Vater. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung aber geben beide Elternteile jeweils einen einfachen Satz ihres Erbgutes weiter. Dieser einfache Satz enthält zwar alle Erbanlagen der Art, setzt sich aber zufällig aus dem väterlichen und mütterlichen Teil zusammen.

Im Prinzip kann daher ein Vater zum Beispiel die Augenfarbe seiner Mutter und die Haarfarbe seines Vaters an sein Kind vererben. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass bei jeder Vermehrung die vorhandenen Erbeigenschaften neu gemischt werden. Das wiederum erhöht die Chancen enorm, dass einer der Nachkommen die richtige Mischung mitbekommen hat, um sich zu behaupten, sollten sich die Umwelt-Bedingungen plötzlich stark ändern. Das kann zum Beispiel ein gefährlicher Erreger sein, der neu auftaucht und dem die meisten Tiere einer Art hilflos ausgeliert sind. Bis auf ein paar wenige Individuen, die zufällig die richtige Mischung im Erbgut haben, um mit diesem Erreger fertig zu werden. Die Männchen sind demnach eine Art Versicherung für unvorhersehbare Zwischenfälle.

Einen wichtigen Hinweis auf diese Versicherungen fand Walter Traunspurger in der Movile-Höhle in der Nähe der rumänischen Schwarzmeer-Küste. Diese ist mindestens seit Beginn der letzten Eiszeit von der oberirdischen Welt abgeschnitten. Und doch gibt es dort ein sehr einfaches, aber zuverlässig funktionierendes Ökosystem. In einer zwei bis drei Millimeter dicken Schicht schwimmen Bakterien auf der Oberfläche der von der Außenwelt abgeschlossenen Gewässer der Höhle und ernähren sich von den reichlich vorhandenen Verbindungen Schwefelwasserstoff und Methan. Sieben Nematoden-Arten weiden diesen schwimmenden Rasen von Mikroorganismen ab. An der Spitze der unterirdischen Nahrungskette stehen kleine Krebse, die sich von den Fadenwürmern ernähren.

Männchen in stabilen Umwelten offenbar überflüssig

Rund zehntausend Tiere dieser sieben Arten von Fadenwürmern hat Walter Traunspurger unter dem Mikroskop untersucht – und er hat kein einziges Männchen gefunden. Die aber wären in der stabilen Umwelt der Höhle schlicht überflüssig. Das Wasser hat dort jahrein und jahraus 21 Grad Celsius und hält diese Temperatur seit vielen Jahrtausenden. Auch der hohe Kohlendioxidgehalt und andere Umweltbedingungen haben sich offensichtlich seit sehr langer Zeit in der Movile-Höhle nicht geändert. Auf eine Versicherung gegen solche Veränderungen können die Fadenwürmer dort also leicht verzichten.

Auch im Königssee in den Bayerischen Alpen bei Berchtesgaden hat Walter Traunspurger einen deutlichen Hinweis darauf gefunden, dass die Natur in einer stabilen Umwelt auf Männchen offensichtlich verzichten kann. 45 263 Nematoden von 116 verschiedenen Arten hat der Zoologe in diesem Gewässer untersucht. In den oberen Wasserschichten kam normalerweise auf jedes Weibchen auch ein Männchen. Ganz anders aber sieht es mehr als hundert Meter unter Wasser bis zur tiefsten Stelle in 188 Metern aus, wo sich die Temperatur und andere Verhältnisse mit den Jahreszeiten kaum noch ändern. In dieser stabilen Umwelt sinkt der Wert einer Versicherung gegen Umweltveränderungen – und prompt findet Walter Traunspurger dort bei den gleichen Arten wie oben zehnmal mehr Weibchen als Männchen.

Mehr als tausend Meter höher als der Königssee gibt es in den Berchtesgadener Bergen Seen, in denen die Verhältnisse alles andere als stabil sind. Mehr als ein halbes Jahr lang kann das Wasser dort zu Eis erstarren, während im Hochsommer die Sonne den See aufheizt. Trotz solcher Veränderungen fand Traunspurger dort bei den Fadenwürmern kein einziges Männchen. Und das sogar bei Arten, von denen im Königssee durchaus Männchen unterwegs sind. Offenbar gibt es also eine weitere Situation, in der die Jungfernzeugung Vorteile bietet: Für ein im Schlamm nur langsam vorankommendes Weibchen sind bei den harschen Bedingungen in einem sehr isolierten Lebensraum die Chancen auf eine Begegnung mit einem Männchen recht bescheiden. Eine Jungfernzeugung verspricht da mehr Erfolg.

Zootiere legten ganz ohne Kontakt zu Männchen Eier

Aus einem ganz ähnlichen Grund scheinen auch verschiedene Wirbeltiere auf die Parthenogenese zurückzugreifen: Bei Haien und Geckos, Python-Schlangen und Puten gab es sicher nachweisbare Jungfernzeugungen nur dann, wenn die in von Menschen gehaltenen Weibchen keinem Männchen begegnet waren. Besonders spektakulär sind die Fälle von Parthenogenese bei Komodowaranen in den Zoos der englischen Städte Chester und London, die im 21. Jahrhundert ohne Kontakt zu Männchen Eier legten, aus denen gesunde Jungtiere schlüpften.

Die bis zu drei Meter langen Komodowarane haben – genau wie alle anderen Echsen und Vögel – im Erbgut W- und Z-Geschlechtschromosomen. Während die Weibchen jeweils ein W- und ein Z-Chromosom haben, besitzen die Männchen zwei Z-Chromosomen. Die Eier eines Weibchens enthalten daher entweder ein Z- oder ein W-Chromosom. Die Samenzellen des Männchens können nur Z-Chromosomen mitbringen, so dass im befruchteten Ei entweder die Kombination ZZ zu einem Männchen heranreift oder aus WZ ein Weibchen wird. Bei einer Jungfernzeugung dagegen fehlt das männliche Erbgut, stattdessen verdoppelt sich das weibliche Erbgut im Ei. Dementsprechend sind die Geschlechtschromosomen entweder WW und damit nicht lebensfähig oder ZZ und damit ein Männchen.

Da Komodowarane auf kleinen Inseln in Indonesien leben, kann leicht ein Weibchen auf einer Insel landen, auf der noch keine Artgenossen leben. Der offensichtliche Männermangel löst dann eine Jungfernzeugung aus, die Hälfte der Eier entwickelt sich nicht, aus der anderen Hälfte schlüpfen nur Männchen. Paart sich die Mutter nun mit diesen Söhnen, schränkt die unvermeidbare Inzucht zwar die Vielfalt des Erbgutes und damit die Anpassungsfähigkeit an Umweltveränderungen stark ein. Aber immerhin hat die Art auf der Insel überlebt.

Aus genau diesem Grund würde Thomas Hildebrandt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin gerne auch bei Säugetieren eine Jungfernzeugung auslösen. Erforscht der Fortpflanzungsspezialist doch unter anderem die Vermehrung von seltenen Nashorn-Unterarten, von denen nur noch drei oder vier Tiere überlebt haben. Weil künstliche Befruchtungen bei diesen Tieren sehr schwierig sind, könnte eine Jungfernzeugung solche Unterarten vor dem Aussterben retten. Bei Säugetieren aber wurde bisher erst ein einziger Fall von Parthenogenese bekannt, als vor mehr als zweitausend Jahren in einem Stall bei Bethlehem die Jungfrau Maria Jesus zur Welt brachte.