Berliner Wissenschaftler schauen Kängurus im Mutterleib bei der Entwicklung zu. Schon sehr früh übt sich der Embryo im Klettern.

Stuttgart - Das Tierchen sieht nicht aus, als könne es schon in ein paar Tagen geboren werden. Zu winzig, zu wenig entwickelt – eher ein Embryo als ein fertiges Känguru. Von den kräftigen Hinterbeinen seiner Verwandtschaft fehlt noch jede Spur. Doch dafür hat das kleine Tammar-Wallaby schon erstaunlich große Arme. Und die weiß es auch zu nutzen: Schon drei Tage vor seiner Geburt fuchtelt es damit herum, als wolle es einen Berg erklimmen. Oder zumindest mit energischen Bewegungen ein Stück vorwärts robben.

 

Barbara Drews vom Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) gehört zu den ersten Menschen, die solche Szenen aus der Känguru-Gebärmutter zu Gesicht bekommen haben. Gemeinsam mit australischen Kollegen der Universitäten Sydney und Melbourne ist es zum ersten Mal gelungen, die Schwangerschaft von lebenden Beuteltieren per Ultraschall zu verfolgen, wie sie im Fachjournal „Scientific Reports“ schildern.

„Wir wollen besser verstehen, wie sich die Trächtigkeit von Beuteltieren und anderen Säugern unterscheidet“, erläutert Drews das Ziel der Untersuchungen. Dass es solche Unterschiede geben muss, ist längst kein Geheimnis mehr. Denn anders als die sogenannten Plazenta-Tiere, zu denen die meisten anderen Säugetiere gehören, bringen Beuteltiere ihren Nachwuchs in einem sehr frühen Entwicklungsstadium zur Welt. Was da nach wenigen Wochen Tragezeit aus der Geburtsöffnung kommt, hat noch keine Ähnlichkeit mit einem Känguru oder Koala. Das Neugeborene krabbelt in den Beutel seiner Mutter, hängt sich an eine ihrer Zitzen und wächst erst dort im Laufe der nächsten Monate zu einem voll ausgebildeten Jungtier heran.

„Wie diese Entwicklung nach der Geburt verläuft, ist schon gut untersucht“, sagt Drews. Um das herauszufinden, müssen Wissenschaftler schließlich nur ab und zu einen Blick in den Beutel der Weibchen werfen. Was aber vorher alles im Mutterleib vor sich geht, wusste niemand. Denn Wissenschaftler hatten diese Phase bis dahin nur an toten Tieren unter die Lupe genommen. Mehr Licht ins Dunkel konnte nur eine dauerhafte Überwachung der Schwangerschaft bringen, wie sie auch bei Menschen üblich ist. Was den Forschern vorschwebte, waren regelmäßige Ultraschall-Untersuchungen am lebenden Tier.

Fehlten nur noch die passenden Beuteltiere, an denen sich solche Studien durchführen ließen. Die fanden sich in einer Feldstation der Universität Melbourne. Seit Jahren halten Wissenschaftler dort die kleinen Tammar-Wallabys, die mit einem Gewicht von drei bis vier Kilogramm etwa so groß sind wie ein Europäischer Feldhase. Die Tiere leben in grasbewachsenen Koppeln, die von einem etwa hüfthohen Zaun umgeben sind. „Zum Glück springen sie da nicht drüber, sonst hätten wir wohl gar keins untersuchen können“, sagt Drews. Bevor man an Ultraschallbilder auch nur denken kann, muss man die vierbeinigen Patientinnen schließlich erst einmal in die Finger bekommen. Und die sind da nicht sonderlich kooperativ.

Sonde aus der Humanmedizin

Die Aktion Känguru-Fang erforderte dann auch die tatkräftige Mithilfe etlicher Studenten. Es galt, eine Reihe aus Treibern zu bilden und die Tiere am Zaun entlang vor sich her zu scheuchen. In einer Ecke der Umfriedung wartete der Fänger mit einem Kescher in der Hand – und mit etwas Glück zappelte das Känguru kurz darauf in den Maschen. In einem Jutebeutel wurde es dann in den Untersuchungsraum gebracht, bekam bei Bedarf ein leichtes Beruhigungsmittel und wurde auf dem Rücken in eine Holzkiste gelegt. „Für die Untersuchung haben wir eine Sonde verwendet, die eigentlich für die Humanmedizin entwickelt wurde“, berichtet Drews. Denn von einem Känguru ein gutes Ultraschallbild zu machen, ist eine echte Herausforderung. Bei anderen Tieren rasiert man einfach das Bauchfell, um die Sonde richtig aufsetzen zu können. Doch der neugeborene Känguru-Nachwuchs braucht die Haare seiner Mutter, um sich daran in die Bauchtasche zu hangeln. Also mussten die Forscher das Untersuchungsgerät in den Beutel schieben, um die haarlose Haut im Inneren zu erreichen. Und dafür eignete sich am besten eine Vaginalsonde aus der Frauenarzt-Praxis. Nach etwa zehn Minuten war die Prozedur vorbei und das Tier konnte in sein Gehege zurückkehren.

Zwanzig werdende Wallaby-Mütter haben die Forscher auf diese Weise regelmäßig untersucht. Sich per Ultraschall in einem Känguru zu orientieren, ist dabei gar nicht so einfach. Immerhin besitzen die Tiere zwei Gebärmütter und nicht nur eine Vagina, sondern drei. Das kann schon mal verwirrend werden. Doch die Mühe hat sich gelohnt: Barbara Drews und ihre Kollegen konnten live miterleben, wie sich eine nur 1,5 Millimeter große, mit Flüssigkeit gefüllte Zellkugel zu einem geburtsreifen Känguru entwickelt – und das in nur 26 Tagen. „Die Tiere halten dabei einen sehr strikten Zeitplan ein“, erklärt sie.

Während der Trächtigkeit spielen sich in der Gebärmutter der Tiere exzentrische Szenen ab, die möglicherweise auch für andere Beuteltiere typisch sind. So haben die Wissenschaftler beobachtet, dass sich die Gebärmutter immer wieder stark zusammenzieht und den Embryo dadurch hin und her rollt. Derart heftige Bewegungen gibt es bei Plazentatieren nicht, sie unterdrücken solche Kontraktionen durch das Hormon Progesteron. Schließlich soll sich der Embryo schon ein paar Tage nach der Befruchtung ungestört in die Gebärmutterschleimhaut einnisten können. Anschließend bildet sich die Plazenta, die den ungeborenen Nachwuchs versorgt. „Beim Känguru passiert das alles aber erst im letzten Drittel der Trächtigkeit“, so Drews. Da stört das vorherige Herumrollen nicht – im Gegenteil: Möglicherweise lässt sich der Embryo so besser ernähren, weil er immer wieder in Kontakt mit frischen Gebärmuttersekreten kommt. Vielleicht fördert die Bewegung auch den Gasaustausch zwischen den Zellen und ihrer Umgebung. So ganz klar ist das noch nicht.

Viel leichter sind dagegen die Armbewegungen zu deuten, mit denen die kleinen Kängurus schon am dritten Tag vor ihrer Geburt beginnen. Offenbar handelt es sich dabei um eine Art Klettertraining. „Auch andere Tiere bereiten sich schon im Mutterleib auf die ersten Herausforderungen nach der Geburt vor“, sagt Drews. Affen und Menschen zum Beispiel stecken den Finger in den Mund und saugen daran wie an einer Brustwarze. Und kleine Delfine machen schon in der Gebärmutter Schwimmbewegungen. Allerdings sind alle diese Arten zu diesem Zeitpunkt schon deutlich weiter entwickelt als der Beuteltier-Nachwuchs. „Wir waren sehr überrascht, dass die Wallabys schon in einem so frühen Stadium so komplexe Bewegungen zustande bringen“, meint Drews.

Doch offenbar bleibt ihnen nichts anderes übrig. Gleich nach der Geburt müssen die winzigen rosa Würmchen, die nicht einmal ein halbes Gramm wiegen, schließlich selbstständig bis zur Zitze krabbeln. Nur wenn sie das schaffen, können sie überleben. Denn die Mutter hilft ihnen nicht – auch wenn sie mit der Pfote oder Schnauze Unterstützung leisten könnte. „Känguru-Mütter investieren nach der Geburt noch sehr viel in ihren Nachwuchs“, erläutert Drews. Beim Tammar-Wallaby hängt das Jungtier neun Monate an der Zitze, bis es voll entwickelt ist. Da will die Mutter vielleicht sichergehen, dass sich der Aufwand auch lohnt und das Kleine gute Überlebenschancen hat. „Die Kletterpartie wäre dann eine Art Bewährungsprobe“, meint die Forscherin. Da kann ein frühzeitiges Training der nötigen Muskeln lebenswichtig sein. Auch wenn die Übungen für menschliche Augen eher wie ein possierliches Herumhampeln aussehen.