Der faktisch ausgerottete Europäische Stör soll in die Gewässer Mitteleuropas zurückkehren. Die ersten Fische wurden bereits ausgesetzt.

Stuttgart - Im Frühjahr und Sommer an der Elbe auf einer Bank sitzen und aufs Wasser hinaus schauen – so können sich viele ihr Leben als Rentner vorstellen. „Wenn dann ein Stör an mir vorbei schwimmt, sehe ich vermutlich einen Erfolg meiner Forschung“, sagt Jörn Geßner vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) am Berliner Müggelsee. Nun ist die Bundeshauptstadt ein ganzes Stück von der Elbe und der Wissenschaftler noch etliche Jahre von der Rente entfernt. Wer aber dem vom Aussterben bedrohten Stör eine Chance geben will, der muss ganz Europa im Blick behalten und weit über sein eigenes Pensionsalter hinaus denken.

 

Schließlich kann der Europäische Stör leicht über hundert Jahre alt werden. Einst schwamm er in vielen großen Flüssen, die zwischen dem Schwarzen Meer und der Nordsee ins Meer münden. Acipenser sturio, so der wissenschaftliche Name, ist aber nicht nur ein Methusalem, sondern auch ein Riese. Das hat Geßner durch historische Recherchen herausgefunden: „1624 wurde in Hamburg ein fünfeinhalb Meter langer Stör angelandet, der 800 Kilogramm auf die Waage brachte.“ Bis 1860 berichten die Annalen mehrfach von viereinhalb Meter langen Tieren, die aus der Unterelbe geholt wurden. Danach blieben die Riesen verschwunden, 1889 holten Fischer nur noch 3000 kleinere Störe mit zwei oder drei Metern Länge aus dem Fluss. Anschließend brachen die Fänge in 15 Jahren fast völlig ein. Nur in wenigen kleinen Flüssen wie der Eider wanderten noch ab und zu Störe, aber auch dort wurde das letzte Exemplar 1969 gefangen. Seitdem ist die Art aus deutschen Flüssen verschwunden.

Dabei gilt der Stör als Erfolgsmodell der Evolution. Seit mindestens 200 Millionen Jahre schwimmen diese Fische in den Gewässern der Erde, schon in der Frühzeit der Dinosaurier ähnelten sie ihren heutigen Verwandten verblüffend: Ein langgestreckter Körper, ein große, nach oben spitz zulaufende Schwanzflosse und vier Reihen von Knochenplatten als Schutzpanzer auf dem Leib erinnern ein wenig an einen Hai in einer leichten Ritterrüstung.

Das Erbgut ist nicht wie beim Menschen auf 46, sondern gleich auf 60 Chromosomen verteilt. Darüber hinaus hat sich dieser normale Erbgutsatz zumindest verdoppelt, in einigen der weltweit 27 Arten sogar auf 240 Chromosomen vervierfacht. In der Evolution sind solche mehrfachen Gen-Ausstattungen ein Riesenvorteil: Die zusätzlichen Chromosomen sind eine Art Spielball, dort können Neuerungen ausprobiert werden. Meist schaden diese eher und die Art kann auf die ursprüngliche, unveränderte Version zurückgreifen. Taucht dann eine der seltenen positiven Veränderungen auf, wird sie beibehalten. So kann sich das Erbgut ohne größeres Risiko rasch an Veränderungen der Umwelt anpassen.

Mit dem Tempo, mit dem die Menschen die Welt veränderten, konnte aber auch der Stör nicht mithalten. Vor allem im 19. und 20. Jahrhundert wurden die Flüsse an die Ansprüche der modernen Welt angepasst. Statt sich ihren Weg in vielen Schleifen und Armen mit dazwischen liegenden Inseln zu suchen, wurden die großen Ströme in ein gerades Bett gezwungen. Dort ist das Flussbett laufend in Bewegung und nur wenige Organismen können dort leben. Daher fehlt es an Nahrung für die Baby-Störe, wenn sie von ihrem Geburtsort auf einer Kiesbank unter Wasser Richtung Meer schwimmen. In vielen Flüssen gibt es ohnehin kaum noch Nachwuchs, weil Stauwehre den Fischeltern den Weg flussaufwärts zu den Laichplätzen versperren. Immerhin ziehen nicht alle Störe in den Mittellauf, viele laichen auch auf Kiesgrund nicht weit oberhalb der Mündung. Dort versperrt ihnen an der Elbe kein Wehr den Weg. Allerdings hat die Hamburger Verwaltung diese Laichplätze schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit ungeklärten Abwässern vergiftet. Den Rest erledigten die Fischer.

Überfischung und fehlende Nahrungsgründe für den Nachwuchs wirken sich aber nur verzögert aus. Erst wenn 15 oder 20 Jahre später die letzte Generation der in den Meeren heranwachsenden Störe aus den großen Jahrgängen der Vorjahre gefangen wurde, brechen die Fangzahlen schlagartig ein. Dann aber ist es fast schon zu spät für Gegenmaßnahmen. Auf diese Weise ist der Europäische Stör aus praktisch allen Flüssen des Kontinents verschwunden.

Bis in die Gegend von Berlin gab es früher Störe in der Havel, in der Elbe wurden die Tiere noch in der Nähe von Prag gefangen und im Rhein wanderten sie bis zum Rheinfall bei Schaffhausen. In der Donau kam mit dem Beluga-Stör eine andere Art bis nach Passau, auch das ist spätestens seit 1968 Vergangenheit: Damals wurde am Eisernen Tor zwischen Rumänien und Serbien die Donau aufgestaut. Seither werden immer wieder vier Meter lange Beluga-Störe beobachtet, die ihre flussaufwärts gelegenen Laichplätze nicht mehr erreichen. Nun hoffen Stör-Experten, dass in den nächsten Jahren mit EU-Mitteln dort ein Fischpass gebaut wird.

Genau genommen geht es um eine Art Fischlift. Störe und andere Arten sollen in einen Korb schwimmen, der am Wehr vorbei nach oben geliftet wird. In Russland funktioniert ein Fischlift mit 20 Meter langen und zehn Meter breiten Körben bereits. Längst nicht so aufwendig ist der Fischpass, den der Energieriese Vattenfall am einzigen Wehr am deutschen Abschnitt der Elbe gebaut hat. Er schlängelt sich 550 Meter am Ufer entlang und besteht aus 49 Becken, von denen jedes neun mal 16 Meter groß ist. Durch jeweils zwei 1,20 Meter breite Schlitze können die Fische die zehn Zentimeter Höhenunterschied zum nächsten Becken überwinden.

Bisher waren aber noch keine Europäischen Störe dabei. Dabei hat das Bundesamt für Naturschutz bereits 1996 damit begonnen, die Rückkehr des Störs in die Flüsse der Nord- und Ostsee zu fördern. Jörn Geßner und seine Kollegen untersuchen, in welchen Flussabschnitten die Art noch eine Chance hat und wie sich der Lebensraum für den Süßwasser-Fisch verbessern lässt. Vor allem aber züchten die Forscher am Berliner Müggelsee und an der Ostseeküste in Mecklenburg-Vorpommern Störe nach.

Beim Baltischen Stör (Acipenser oxyrinchus), der in den Zuflüssen der Ostsee und in Nordamerika lebt, klappt das ohne größere Probleme. Diese Jungfische fressen fast alles. „Das ist eben ein typischer Fast-Food-Konsument“, schmunzelt Jörn Geßner. Die Europäischen Störe, die in der Elbe und ihren Nebenflüssen wieder angesiedelt werden sollen, entpuppen sich dagegen als Feinschmecker, die nur Nordsee-Krabben und Mückenlarven verzehren, manchmal lassen sie sich auch noch zu Tintenfischen herab. „Das sind echte Gourmets aus Frankreich“, meint Jörn Geßner: Dort hat sich 1994 in den Zuflüssen der Gironde der Europäische Stör zum letzten Mal in der Natur vermehrt und von dort stammen alle Tiere, die jetzt in Frankreich und Deutschland für Nachwuchs sorgen sollen.

Da die acht deutschen Tiere des Jahrgangs 1995 bisher noch keinen Nachwuchs hatten, holen Jörn Geßner und seine Kollegen jedes Jahr Jung-Störe aus Frankreich. Seit 2008 haben sie 19 000 zehn bis 30 Zentimeter lange Fische in der mittleren Elbe und ihren Nebenflüssen Mulde, Havel, Oste und Stör eingesetzt. In der Oder wurden seit 2011 bereits rund eine Million Baltische Störe aus heimischer Zucht in die Freiheit entlassen. Rund 20 Jahre brauchen die Tiere bis zur Geschlechtsreife. Jörn Geßner sollte also gute Chancen haben, den Erfolg seiner Arbeit zu beobachten, wenn er als Rentner vielleicht im Jahr 2030 auf einer Bank an der Unterelbe oder im Nationalpark Unteres Odertal sitzt und auf den Fluss hinaus schaut.

Amerikaner in der Oder

Zuwanderung
Erbgutanalysen an von Museumsexemplaren haben gezeigt, dass nordamerikanische Störe vor 1200 Jahren den Atlantik überquert und sich in der Oder und anderen Ostsee-Flüssen vermehrt haben. Eventuell spielte dabei eine „Kleine Eiszeit“ eine Rolle, die im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Damals kühlten die europäischen Meere kräftig ab.

Temperatur
Das passte den Amerikanern gut. Sie kommen auch in 13 Grad kühlem Wasser gut zurecht, während die Europäer eher 20 Grad brauchen. Obendrein gibt es an der Ostsee ausgedehnte flache Bereiche, in denen das Wasser nur wenig Salz enthält. Genau dort wachsen die amerikanischen Störe hervorragend. In der Elbe sind dagegen die Europäischen Störe im Vorteil.

Forschung
Viele Störe, die Wissenschaftler aussetzen, erhalten Markierungen, manche schwimmen mit Funksendern los, die ihre Position verraten. Erwischen Fischer einen Stör mit Marke, müssen sie ihn freilassen, melden aber die Markierung und den Fundort. Sogar aus Norwegen trudelten Berichte über deutsche Störe ein, die mehr als 1500 Kilometer gewandert waren.