Die Kreisarchivarin Helga Hager und eine Historikerin erforschen den Alltag im Ersten Weltkrieg. Sie sichten Briefe und stützen sich auf Erzählungen.

Böblinegn - „Weil es heute Sonntag ist und ich ja meine Gedanken immer bei Dir habe, will ich Dir einen Brief schreiben“, wendet sich die Holzgerlingerin Maria Decker am 4. Juni 1915 an ihren Mann, der sich während des Ersten Weltkriegs als Soldat an der Front befindet.

 

Maria Decker berichtet von ihrer Not zu Hause, das Vieh im Stall ausreichend mit Futter zu versorgen. „Wir wollen bewusst Menschenschicksale in den Vordergrund rücken und haben dankenswerterweise diesen Brief von Angehörigen der Familie zugeschickt bekommen“, sagt die Kreisarchivarin Helga Hager. In einem Forschungsprojekt möchte sie Schicksale der Menschen aus dem Kreis und ihren Alltag beleuchten – sowohl in den Schützengräben als auch in den Heimatorten.

40 Bürger aus dem Kreis folgen dem Aufruf

Auf einem langen Tisch im Landratsamt hat Helga Hager sämtliche Dokumente, Fotos und auch Tagebücher ausgebreitet, die ihnen rund 40 Bürger aus dem Kreis nach einem Aufruf haben zukommen lassen. Zahlreiche Orden erhielt sie, Pickelhauben, einen Feldstecher, Essgeschirr, 350 Feldbriefe und Postkarten, einen durchschossenen Brustbeutel und auch eine selbst gezimmerte Puppenstube mit einer Bank, einem Tisch, einem Stuhl und einer Kommode mit Spiegel. „Sie ist von dem Sindelfinger Friedrich Keller angefertigt worden“, erzählt Hager. Auf die Möbelchen sind rote Kirschen gemalt. Keller sei von Beruf Architekt gewesen, habe zwei Töchter gehabt und sei in den französischen Vogesen stationiert gewesen, sagt die Kreisarchivarin. Dort muss es offenbar eher ruhig zugegangen sein. „Wohl um sich die Zeit zu vertreiben, haben sich Soldaten auch handwerklich und künstlerisch betätigt“, fasst Helga Hager zusammen.

Das menschenvernichtende Kriegstreiben dagegen spiegelt sich in einem 150 Seiten umfassenden Tagebuch wider, das der Enkel des Generalleutnants Siegfried von La Chevallerie und einstigen Schlossherrn von Ehningen zur Verfügung gestellt hat. „Es beschreibt die Technik des Tötens aus der Sicht eines führenden Artilleriekommandeurs“, sagt Hager. Deutlich werde darin die deutsche Perfektion etwa bei der Planung von Schützengräben und in der Vorgehensweise. „Der Übermacht der französischen, der amerikanischen und britischen Truppen hatten die Deutschen ihre Taktik entgegenzusetzen. Sie bestand auch darin, mit der Munition und der Verpflegung sparsam umzugehen“, berichtet Hager. Als La Chevallerie einen feindlichen Schützengraben eingenommen habe, sei er erstaunt gewesen, „wie viel die anderen zu essen hatten“, so die Kreisarchivarin, die in Tübingen Volkskunde studiert hat.

Unterstützung durch eine Historikerin

Für ihr Forschungsvorhaben gewann sie die Stuttgarter Historikerin Michaela Couzinet-Weber, deren Mitarbeit an dem Projekt aus Mitteln des aufgelösten Heimatgeschichtsvereins Schönbuch und Gäu finanziert wird. „Mir ist es wichtig, nicht nur das Soldatenleben zu erhellen, sondern auch den Bogen zu schlagen zum Elternhaus des Kriegsteilnehmers mitsamt dem dörflichen Milieu seines Heimatorts“, umreißt Hager das Projekt.

Welche Dramen sich abgespielt haben, wenn ein Sohn nach dem anderen gefallen ist, berichtet die Enkelin des einstigen Dachteler Maurers Johann Georg Breitling. Ihr Großvater habe sechs Söhne gehabt. Vier von ihnen waren bereits gestorben, als der fünfte zum Sanitätsdienst eingezogen wurde. Als sich dann der sechste Sohn für den Kriegsdienst melden sollte, sei der Großvater ins Rathaus gegangen und habe gedroht, es anzuzünden.

„Ich bete jeden Tag für Dich auf Knien“

Hart habe es, so sagt Hager, auch die Frauen zu Hause getroffen wie etwa Maria Decker. Ihrem Gatten schreibt die Holzgerlingerin: „Ich habe jetzt den Mist sauber fortgeführt. Das Aufladen hat mir furchtbar weh getan. Aber ich muss es tun, weil ich niemanden habe.“ Wenn es nicht bald regne, gebe es für das Kalb nicht mehr genug zu fressen , weil das Gras nicht wachse. Zur Not müsse sie es verkaufen. „Ich würde Dir öfter schreiben, wenn ich nur die Zeit dafür hätte“, bedauert Maria Decker: „Ich bete jeden Tag für Dich auf Knien, denn ich möchte gewiss nicht mehr leben, wenn die Botschaft käme: ,Er ist gefallen.’“