Der Familie La Marra ist nicht wirklich nach Feiern zumute. Sie hat sich zwar in ihrem von Erdhebungen betroffenen Heim wieder eingerichtet und hofft, dass die zugegipsten Schäden nicht erneut auftreten. Doch muss sie die Kosten selbst tragen.

Böblingen - Ein Teller mit Panettone-Stücken steht auf dem Tisch im Esszimmer. Rita La Marra serviert zu dem italienischen Kuchen aus Hefeteig, der traditionell

 

zur Weihnachtszeit gehört, einen Cappuccino mit einer Haube aus geschäumter Milch. Nur noch wenig erinnert im Böblinger Heim der La Marras daran, dass das Gebäude vor gut drei Jahren als nicht sicher eingestuft wurde und die Familie ausziehen musste. Nun können das Ehepaar und seine 16-jährige Tochter wieder in den eigenen Wänden Weihnachten feiern. Einen Baum haben sie sich auf den letzten Drücker zugelegt. O du fröhliche? Nein, unbeschwert können die La Marras nicht sein. Dafür wiegt das, was hinter ihnen liegt, und das, was noch auf sie zukommt, zu schwer.

Nach Geothermiebohrungen in der Nachbarschaft durchzogen die Doppelhaushälfte Risse, vom Keller bis in das Dachgeschoss. Die Türen und Fenster klemmten, die Fließen sprangen überall auf. An den Wänden brach der Gips, so dass man seinen Zeigefinger hineinstecken konnte. Der Keller musste abgestützt und statisch gesichert werden. Das städtische Baurechtsamt erließ eine Anordnung, das Gebäude zu räumen. „Ich bin hier verwurzelt. Ich will mit der Familie in Böblingen bleiben“, erklärte Antonio La Marra mit Tränen in den Augen, „aber wir haben Angst, fühlen uns nicht mehr sicher und können nicht mehr ruhig schlafen.“

Leerstehendes Haus geheizt, damit Leitungen nicht zufrieren

Die La Marras zogen am 2. Dezember 2013 aus. Auf Vermittlung des katholischen Dekans Karl Kaufmann erhielten sie eine Wohnung, für ein halbes Jahr bekamen sie von der Stadt einen Mietzuschuss. Fast zwei Jahre lang heizte Antonio La Marra die Räume in seinem Haus, damit die Leitungen nicht zufroren.

In den nunmehr 24 Jahren, in denen er das Haus in der Feldbergstraße besitzt, hat La Marra, als Dreher in einem Metall verarbeitenden Betrieb beschäftigt, alles zur Verfügung stehende Geld in sein Eigenheim gesteckt. Als einer der Ersten hatte er im Jahr 2008 Risse entdeckt, die im Laufe der Zeit bis zu drei Zentimeter breit wurden. Zunächst dachte er, sie seien auf die Kanalarbeiten in seiner Straße zurückzuführen. Doch dann erhielt er einen Brief von der heutigen CDU-Kreisrätin Daniela Braun, dass es auch an anderen Häusern Schäden gebe. Es kam ans Licht, dass sie auf die Geothermiebohrungen zurückzuführen waren, die Erdhebungen verursachten.

Gesamtschaden wird auf 50 bis 60 Millionen Euro geschätzt

Bis 2008 wurde rund 300 Meter vom Haus der La Marras entfernt nach Erdwärme gebohrt. Nach offiziellen Angaben wurden dadurch rund 200 Gebäude beschädigt. Die gesamte Schadensumme wird auf 50 bis 60 Millionen Euro geschätzt. Auch andere Häuser mussten statisch gesichert werden. Zuerst ließ das Landratsamt verlauten, die Risse seien so bald wie möglich zu beheben. „Jetzt heißt es, wir dürfen nicht grundlegend sanieren, bevor die Erdhebungen aufhören“, sagt La Marra.

Auf Initiative des Pfarrers Kaufmann sei eine Baufirma damit beauftragt worden, das Fundament des Hauses sicher zu machen, erzählt der 54-Jährige. In die Haustüre wurde ein Stahlträger eingebaut, die Flurtreppe abgestützt. Das geschah in den Sommermonaten vor zwei Jahren, im darauffolgenden Oktober durften die La Marras wieder in ihr Domizil zurück. Nachdem die Risse überall zugegipst waren, hat Antonio La Marra tapeziert und frisch gestrichen. Im Flur erinnern nicht übertünchte Stellen noch daran, dass die Treppe fast wegzubrechen drohte. Der Keller wurde mit neuen Trägern statisch gesichert.

5000 Euro als zinsloses Darlehen

„Ich beobachte die Stellen, die wir zugegipst haben, ob die Risse wieder auftauchen“, sagt La Marra. Doch versuche er, nicht jeden Tag an das Malheur zu denken, das die Familie an den Rand des Ruins bringt. Das Haus zu verkaufen und nach Italien zurückzukehren, in sein Heimatdorf bei Caserta zwischen Neapel und Rom, das sieben Kilometer vom Meer entfernt liegt, komme nicht infrage: „Wer will unser Haus denn haben?“ Antonio La Marra kam als Zwölfjähriger nach Deutschland. Die Familie zog nach Sindelfingen. Er, seine Frau und seine 16-jährige Tochter, die in Böblingen zur Schule geht, seien außerdem zu sehr verwurzelt, als dass sie ihre gewohnte Umgebung verlassen wollten.

Um die Schäden zu beheben, hat die Familie von der Stadt Böblingen ein zinsloses Darlehen über 5000 Euro erhalten, das sie in drei Jahren zurückzahlen muss. Ob sie das schafft, weiß sie noch nicht. „Ich hoffe, die Laufzeit wird verlängert“, sagt La Marra. Im Januar komme ein Gutachter, der das Haus erneut inspizieren und den Schaden ermitteln werde. Die Allianz, bei der die Bohrfirma versichert war, hat insgesamt 140 000 Euro für Gutachten und dringende Maßnahmen in Aussicht gestellt. Darunter fallen aber nur akute Arbeiten, etwa wenn eine Wasserleitung zu bersten droht. Die „normalen Reparaturen“ müssen die Hausbesitzer bisher selbst bezahlen.

Ob die Versicherung für die Schäden aufkommt, ist offen

„Die Verhandlungen mit der Versicherung über die volle Kosten- und Schadensumme können noch lange dauern“, vermutet La Marra. In Italien würden in solchen Fällen 20 oder 30 Jahre vergehen. In welchem Umfang die Allianz jemals für die Schäden aufkomme, sei völlig offen.

Immerhin, im Eszimmer steht nun ein kleiner Weihnachtsbaum. Auf jeden Fall wird etwas Leckeres auf den Tisch kommen. Traditionell gehören Frutti di Mare dazu – und sicher gibt es einen Cappuccino.