Im Nordosten Nigerias zieht die Terrormiliz Boko Haram eine Spur des Grauens durch die Städte und Siedlungen. Menschen werden ermordet, Frauen vergewaltigt, Kinder entführt. Die Überlebenden sind schwer traumatisiert. Eine Psychologin hilft ihnen – mit Erfolg.

Maiduguri -

 

Im kahlen Zimmer eines Rohbaus kauern neun Frauen mit geröteten Augen auf dem Boden. Einige von ihnen haben ihre Babys mitgebracht, die von der bleiernen Schwermut im Raum in den Tiefschlaf gedrückt wurden. Eine Frau nach der anderen schildert grausige Szenen, die sich in ihr Gedächtnis gefräst haben. Die Frau im schwarzen Hidschab musste mit ansehen, wie ihrem Vater der Kopf abgeschnitten wurde. Ihre Nachbarin erzählt, wie sie auf der Flucht mit ihrem Baby auf dem Rücken in einen Graben stürzte – und mit dem eigenen Gewicht ihr Kind erdrückte. Eine dritte Frau bricht bei der Schilderung der vor ihren Augen erfolgten Ermordung ihrer drei Söhne in Tränen aus. „Ich halte diese Bilder nicht länger aus“, schluchzt die gut 30-Jährige. „Ich will sie aus meinem Kopf gelöscht haben.“

Fatima Akilu hört sich die Berichte schweigend an. Die Psychologin kennt solche Schilderungen aus Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von Fällen: Schließlich spielt sich die Szene in Maiduguri, der Hauptstadt der nordostnigerianischen Provinz Borno, ab, wo seit Jahren einer der grausamsten Bürgerkriege der Zeitgeschichte tobt. Mitglieder der Extremistenmiliz Boko Haram entführen hier Mädchen – manche nicht einmal zehn Jahre alt –, um sie unter Drogen zu sogenannten Selbstmordattentaten zu zwingen. Knaben müssen ihre Eltern töten, Frauen werden vor den Augen ihrer Ehemänner vergewaltigt und ihren Männern anschließend die Kehle durchgeschnitten – auf diese Weise soll sie der Horror bis in alle Ewigkeit quälen. Das Ausmaß der Grausamkeiten sei „unvorstellbar“, sagt Fatima Akilu. Und wer das Glück gehabt habe, den Wahnsinn überlebt zu haben, werde von schrecklichsten Bildern verfolgt. „Ich höre euren Schmerz“, sagt die Therapeutin schließlich an die Frauen gerichtet – und fügt hinzu: „Aber wir werden euch schon wieder zum Lachen bringen.“

Psychotherapie war in Nigeria lange verpönt

Gemeinsam mit zwanzig weiteren ausgebildeten Psychologen bietet Fatima Akilu im Rahmen der von ihr gegründeten Neem Foundation Traumaopfern Einzel- oder Gruppengespräche an. Eine für Maiduguri ungewöhnliche Initiative, räumt sie ein, denn von Psychotherapie und Begriffen wie Trauma oder posttraumatische Belastungsstörung habe hier noch niemand gehört. Die Auseinandersetzung mit seelischen Befindlichkeiten gelte in afrikanischen Breitengraden weithin als westliche Luxusmarotte: Afrikaner, heißt es, hätten es eher mit „wirklichen“, nämlich materiellen Problemen wie Hunger, Gewalt oder Krankheiten zu tun. Erst wenn sich herausstelle, dass die seelischen Schäden zu ernsten körperlichen Folgen führen, horchten auch die Verantwortlichen auf, sagt Akilu. Viele der Traumaopfer klagen über Gliederschmerzen, über ständiges Erbrechen oder Schlaflosigkeit.

Als die promovierte Psychologin vor mehr als zehn Jahren von ihrem Studium in England und den USA nach Hause zurückkehrte, war sie erst einmal arbeitslos: Mit Seelenexperten wusste man in Nigeria nicht viel anzufangen. Doch dann erfuhr der Sicherheitsberater des damaligen Präsidenten, Andrew Azazi, von der Existenz der Psychologin: Der Vier-Sterne-General aus dem christlichen Süden des Landes suchte jemanden, der ihm aus psychologischer Sicht erklären konnte, was hier im Nordosten eigentlich vor sich ging. Warum schlossen sich dort Tausende von jungen Männern einer Sekte an, um unter einem dünnen Mäntelchen der Religion die haarsträubendsten Verbrechen zu begehen?

Eine Studentin mit einem Faible für Serienkiller

Azazi hätte niemand Geeigneteren als Fatima Akilu finden können. Die Frau aus der christlich-muslimischen „Frontstadt“ Kaduna, Autorin von 17 Kinderbüchern, wollte eigentlich Schriftstellerin werden und hatte sich zu diesem Zweck in die USA begeben. Doch nach dem Besuch einer Jugendstrafanstalt änderte sie ihre Pläne: Sie studierte Psychologie und Gerichtspsychologie und entwickelte ein besonderes Interesse an Serienstraftätern. Einer ihrer Klienten war John Hinckley, der versucht hatte, den US-Präsidenten Ronald Reagan zu ermorden.

Als erster hoher Militär habe Azazi im Umgang mit den „Terroristen“ auf den „sanften Weg“ gesetzt, sagt Akilu. Der General habe seine Gegner zu verstehen versucht, um ihnen mit geeigneten Mitteln begegnen zu können. Ihm sei auch nicht der geläufige Fehler unterlaufen, einfache Boko-Haram-Milizionäre für „blöd“ und deren blutrünstigen Chef Abubakar Shekau für „krank“ zu halten: Allein schon die Tatsache, dass Shekau eine der mächtigsten Streitkräfte Afrikas jahrelang an der Nase herumführen konnte, zeitweise ein Gebiet von der Größe Belgiens beherrschte und bis heute seine Ermordung oder Verhaftung zu vermeiden wusste, zeige die Raffinesse des Sektenführers. Und warum sollte man die bettelarme Bevölkerung Nordostnigerias nicht ernst nehmen, die sich von den angeblichen Errungenschaften der Moderne – der Globalisierung und dem Liberalismus – ausgegrenzt und abgestoßen fühlen?

Religion? Nur ein Mittel zur Machtergreifung

Ihren Job als Direktorin für Verhaltensanalyse und Strategische Kommunikation im Büro des Nationalen Sicherheitsberaters Nigerias legte Akilu genauso breit wie ihren Titel an. Zunächst studierte sie über Jahre hinweg die Mentalität der Boko-Haram-Mitglieder und stellte fest, dass deren Motive eher machtpolitischer als religiöser Natur waren. In ihren Gesprächen mit Angehörigen der Sekte habe sie wesentlich öfter den Namen Mao Tse-tung als Mohammed vernommen: „Diese Leute wollen die Macht an sich reißen, Religion ist nur ein Mittel zum Zweck.“ Einfache Sektenmitglieder verhielten sich wie Angehörige einer amerikanischen Streetgang, erkannte Akilu: Sie suchten Zugehörigkeit, Identität, eine Gruppe von Menschen, die sich ihre Regeln selber setzen. Während ihrer Recherchen lernte die Psychologin auch den inhaftierten geistlichen Mentor von Abubakar Shekau kennen. In zahllosen Gefängnisbesuchen gewann sie das Vertrauen des Imams. Ihre Gespräche wurden über Jahre hinweg immer intensiver. Eines Tages fragte der geistliche Führer der Sekte, deren Name „westliche Bildung ist Sünde“ bedeutet, ob Akilu nicht eine Schule für seine Enkel finden könne, nichts würde ihn zum gegenwärtigen Zeitpunkt glücklicher machen. Als die Psychologin seinem Wunsch entsprach und der Geistliche kurz später aus der Haft entlassen wurde, äußerte er noch einen zweiten Wunsch: Jetzt wolle auch er eine Schule besuchen. Das stellte seine Gesprächspartnerin schon vor größere Probleme: Keine Grundschule wollte den fast 50-jährigen Pennäler aufnehmen, und für eine weiterführende Schule waren die Kenntnisse des Imams nicht fortgeschritten genug. Also musste der Mann, dessen Namen aus Sicherheitsgründen hier nicht genannt werden darf, zunächst Aufholkurse belegen, um schließlich ein Gymnasium an einem geheim gehaltenen Ort besuchen zu können – zu groß ist die Gefahr, dass ihn Mitglieder der Sekte als Verräter töten könnten.

Eine Stiftung resozialisiert Ex-Terroristen

Zum Schlüsselbegriff ihrer Arbeit sei das Wort „Engagement“ geworden, sagt Akilu: Alles komme auf die Bereitschaft an, mit den Extremisten wirklich in Kontakt zu treten. „Wenn man sie mit neuen Ideen konfrontiert, breiter denken lässt und ihnen die Fähigkeit zum kritischen Denken vermittelt, dann bewegt sich auch was.“

Als ihr Mentor Akaziz mit dem Hubschrauber abstürzt und ein neuer Präsident des Landes – Ex-General Muhammadu Buhari – wieder eine militärische Lösung des Terroristenproblems anstrebt, werden Fatima Akilus Dienste hinfällig; ihr Vertrag wird nicht verlängert. Daraufhin gründet sie ihre eigene Stiftung und nimmt mit ihrem alten Team die Traumatherapien auf. Gleichzeitig sucht sie jedoch auch ihre intimen Kenntnisse der Boko-Haram-Sekte zu nutzen: Sie entwickelt Entradikalisierungkurse, die inhaftierten Sektenmitgliedern bei der Resozialisierung helfen sollen. Anfang des Jahres veranstaltete die Neem-Stiftung ihren ersten Kurs mit 138 Frauen, die zu diesem Zweck aus der Haft freigelassen und der Obhut der Stiftung überlassen wurden.

Psychologe Reuben Ibaishwa, der aus dem christlichen Südwesten Nigerias stammt und den nordnigerianischen Dialekt Hausa nicht spricht, fiel es nicht leicht, das Vertrauen der muslimischen Extremisten zu gewinnen. Ihn verblüffte vor allem die Realitätsferne seiner radikalisierten Landsleute: Sie hätten doch allen Ernstes geglaubt, den mit 200 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Staat Afrikas unter ihre Kontrolle bringen zu können, um ein mittelalterlich anmutendes Kalifat zu errichten. In ihrem abgeschiedenen Buschleben hätten die von den Streitkräften verfolgten Boko-Haram-Mitglieder wohl eine Art Tunnelblick entwickelt, meint der Psychologe. Außerdem handele es sich bei vielen von ihnen um ehemalige, schwer bindungsgestörte Straßenkinder, die sich bei den scheinbar wohlwollenden Sektenführern mit grenzenloser Loyalität bedankten.

Erfolge stellen sich rasch ein

Er habe seine Sitzungen gerne mit einem Hinweis auf die Liebe der Sektenmitglieder zu ihren Mobiltelefonen begonnen, erzählt Ibaishwa. Ob sie schon einmal daran gedacht hätten, dass diese begehrten Geräte Produkte der westlichen Bildung seien, wollte er wissen. Außer therapeutischen Gesprächen bot die Stiftung den Extremisten auch Sport, Malen, Dialoge mit aufgeschlossenen Geistlichen und Unterricht in kritischem Denken an: Schon nach ein paar Wochen hätten sich erste Erfolge eingestellt, meint der Psychologe. So lebe eine junge Frau, die zuvor dreimal versucht hatte, ihren Vater umzubringen, inzwischen wieder mit ihm zusammen.

Ein Urteil über die Wirksamkeit der Entradikalisierungskurse traut sich Fatima Akilu heute noch nicht zu: „Das wird sich erst in ein paar Jahren herausstellen.“ Diese Zeit will sie aber nicht mit Warten verbringen. Derzeit baut sie ein Zentrum für traumatisierte Kinder und resozialisierungswillige Sektenmitglieder auf. Ihrer Meinung nach wird die Provinz Borno in Nigeria noch jahrzehntelang ein Fall für Therapeuten bleiben: „Unsere Arbeit hat gerade erst begonnen.“

Ein wenig Zuversicht in der Hölle

Nicht weit vom eingangs beschriebenen Rohbau entfernt hat sich am Mittag unter einem Zeltdach eine Gruppe von vier Frauen und vier Männern eingefunden. Entspannt plaudern die zwischen 20 und 70 Jahre alten Gruppenteilnehmer miteinander: Es ist die letzte Sitzung mit ihrem Therapeuten Reuben Ibaishwa. Er habe sich wochenlang jeden Morgen übergeben, erzählt Harun Ahmed aus dem 40 Kilometer östlich Maiduguris gelegenen Städtchen Bama. Als die Extremisten im August 2015 den Ort überfielen, seinen Onkel, einen Koranlehrer, töteten und sämtliche seiner Bücher verbrannten, sei er mit seinem Leben am Ende gewesen. Fast zwei Jahre lang saß der grau melierte Herr dann tatenlos im Flüchtlingslager in Maiduguri herum, bis die Neem-Psychologen auf ihn aufmerksam wurden. Nach vier Gruppensitzungen scheint sein Leben nun tatsächlich neuen Schwung bekommen zu haben: Der ehemalige Hutverkäufer hilft inzwischen einem Viehhändler beim Ziegen-Verkauf und bekommt sogar etwas Geld dafür.

Auch die anderen Teilnehmer der Gruppe berichten von neuer Zuversicht: Eine 22-jährige Frau, die weder lesen noch schreiben kann, will nun in die Schule gehen. „Bisher haben wir nur nach hinten, in die Vergangenheit geschaut“, sagt Therapeut Ibaishwa, als er die Gruppe schließlich sich selbst überlässt. „Jetzt können wir wieder nach vorne blicken.“ Und 16 Hände klatschen Beifall.